White Gray Wedding.
Mit JoJa unterwegs in die große
Stadt. Fahren ganz früh mit dem Bus, der Bus ist nicht ganz pünktlich und ein
Stoppelstockbus mit ganz vielen verpennten Menschen drin. Sie alle sind auf
der Flucht in den wilden Osten oder ins Westend. Was ist das wichtigste am
Dreieck? Mit derlei wiglaf-drost’schem Kurzweil vertreiben wir uns die
Fahrtzeit. Kommen an dreiviertel acht am schmutzig-grauen Kongresszentrum neben
dem Mini-Eiffelturm, die Sonne ist längst aufgegangen, die Flüchtlinge steigen
aus, und die S-Bahnstation, an der wir umsteigen, heißt Hochzeit und ist abgebrannt.
„lieben, was es nicht gibt.“
Zwischen Oranienburger Tor und
Naturkundemuseum ohne Dinosaurier mittlerweile findet die Tagung statt. Die
Tagung ist eine Konferenz zu Ehren Schernikaus, und weil auch Schernikau so
gern Kaffee trank, dass er sich, um nicht pleite zu gehen, während seiner tage
in l. den Kaffee im Intershop besorgt habe, besuchen wir kurz den
Kaffeeladen, der nach Balzac, dem anderen großen Dichter und Kaffeetrinker, benannt
ist. Der Kaffee hier ist teuer und dünn, aber die Tassen sind groß immerhin,
und der Tisch wackelt nicht. Unterhalte mich mit JoJa über die fünf Stufen der
Wirbeltierentwicklung, über die zehn Stufen des Vegetarismus und die noch viel
zahlreicheren Stufen der Strudlhofstiege in Wien. Die Sonne scheint wie in
Italien, die Gewerkschaft der Bergleute, Chemiker und Energiemenschen
demonstriert für ungefähr 4,68 Prozent mehr Lohn, und für morgen ist wieder
Sonnenschein und ausnahmsweise auch ne Sonnenfinsternis vorhergesagt.
Erste. Runde: Subjunktivismus und Journalismus.
Kurz nach neun vor Ort, der Ort ist
gleich neben Wolf Biermanns ehemaliger Residenz, Dietmar Dath ist bereits da,
und Jens Friebe kommt mal wieder zu spät.
Daths Vortrag beschäftigt sich mit Schernikaus Poetik, die
groß, hoch oben und Avantgarde gewesen sei: untertreibende Avantgarde („Da
ist Paul da“), und subjunktivistische Avantgarde („Der Kommunismus wird
siegen werden“). Er erzählt von den Wörtern, die zu berichtigen seien, aber
im Moment hätten wir nur diese Wörter, und mit diesen müssten wir hantieren,
wir könnten ja nicht einfach schweigen, bis eine neue Sprache erfunden ist,
aber wir sollten natürlich wissen, dass, wenn wir heutzutage das Wort Freiheit
hören, fast immer freie Verkäuflichkeit gemeint sei. Namen von Roman-
und Märchenhelden werden thematisiert, Anton Tattergreis, Meta Nackedei und
natürlich Janfilip Geldsack – über den es ein Lied gibt, gesungen von Rio
Reiser, Das Lied vom Geldsack.
Stefan Ripplinger in seinem Vortrag über Ronis journalistische
Arbeiten sagt, „alles, was Ronald M. Schernikau geschrieben hat, war
Literatur.“ Er beleuchtet die Düsseldorfer Debatte, erzählt von des
Dichters literarischer Heimat, der DVZ, die heute der Freitag
ist. Phrasen habe Schernikau nicht gemocht. Selbstbewusst sei er gewesen, wie
Peter Hacks („Ich könnte auf Selbstkritik verzichten“) und Arno Schmidt („Ich
finde Niemanden, der so häufig recht hätte, wie ich!“). Und Wahrheit
habe er so definiert: Es kann etwas wahr sein, aber nicht wirklich. Am
Ende bezeichnet Ripplinger Schernikau als Außenseiter in der DKP, und ein
junger Mann im Publikum gesteht, er könne nicht verstehen, dass der
herzensjunge Schernikau Mitglied in dieser mausgrau-verknöchertenen Partei
war (was natürlich auch nur dann zu verstehen ist, wenn man weiß, dass für Schernikau
der Sozialismus keine Utopie war, sondern eine Sache, die man machen kann – und
dass man den Sozialismus nur machen kann, wenn man Politik macht, und zwar
in einer Partei – und zwar in einer Partei, die den Sozialismus auch wirklich
machen will und ihn nicht nur im Parteiprogramm stehen hat).
Zweite Runde: Uhrmacherblick und Götterblick.
Georg Fülberth, der einst eine
wichtige Geschichte der Bundesrepublik geschrieben und später
ausgerechnet hat, wie lange der Kapitalismus noch dauern wird, beginnt die
zweite Runde: RMS habe auf die DDR geschaut, er habe sich alles ganz genau angeschaut,
jedes Detail, wie ein Uhrmacher, er habe gesehen, was im Kleinen gut war und
was nicht funktionierte… Und während Fülberth liest, schweifen meine Gedanken
ab, ich bin ungeduldig, will wissen, wie der Blick von oben war, Götter sind
doch viel interessanter als Uhrmacher, jetzt mal im Ernst, und ich zoome mich
zurück in eine alte Zeit, und ich zoome mich heraus aus dem Brechtforumssaal in
den Himmel, der heute wolkenlos ist, und so kann ich alles ganz klar und ganz
klein sehen, und so wird es auch Roni gegangen sein, als er, gott- und
göttergleich, von oben auf das Land und auf die Welt guckte, und auch er sah,
dass alles, was im Kleinen und unter der Lupe des Uhrmachers prima war (oder
auch nervte), zusammenhing mit dem großen Ganzen: Wer Bananen will, muss
Neger hungern lassen. Und weil er das nicht wollte, verteidigte er die DDR,
vor allem aus diesem Grund, trotz aller sichtbaren Mängel und so oft es ging…
…Peter Hacks habe ihn deshalb um ein zwei kleine Präzisierungen
gebeten. Wieviel leichter, schrieb er dem Freund, wäre zu reden, wenn er,
Schernikau, nicht immer von der DDR, sondern von „Honeckers DDR“
sprechen würde: „Sie verteidigen stets Unentschuldbares.“ Auch empfahl
er ihm dringend, in der legende auf fifi, kafau, tete und stino zu
verzichten: „Lassen Sie die Götter weg!“ – – – Nehmen Sie Goethe!,
hätte er fortfahren können, denke ich, und ich denke weiter, dass Hacks‘ erster
Vorschlag offene Türen eingerannt hat damals, und auch der zweite wäre vermutlich
auf Wohlwollen gestoßen: Wenn Schernikau die DDR verteidigte, dann war es wohl
weniger, wenn auch unausgesprochen, die real existierende, sondern eher eine Idee
von einer sich immer weiterentwickelnden DDR – so wie auch Goethe und die
Götter weniger am real existierenden Menschen als an einer Idee vom vollkommenen
Menschen interessiert waren.
Jedenfalls nahm ihn Hacks im nächsten Brief in die Partei
der zehn Gerechten auf und bezeichnete ihn später als letzten normalen
Menschen – und Georg Fülberth steuert dem die schöne These bei, dass Schernikau
nicht der letzte, sondern viel eher der erste Kommunist gewesen sei.
Zitat des Tages.
„Sinnvolles Leben ist Kampf für
sinnvolles Leben.“ (Ursula Püschel über den Sinn des Lebens im real
existierenden Kapitalismus)
Friedhofsspaziergang.
Spazieren in der Mittagspause die
Chausseestraße entlang und kehren ein in dem indischen Restaurant, welches ich
mit der halben Großfamilie besucht hatte im Sommer 2012, als ich noch kein einziges
Wölkchen am Himmel sah, obwohl sich das Unwetter längst zusammengebraut hatte.
Linsensüppchen und Salat, danach Gemüse in einer der typischen Soßen, die
immer ganz okay sind aber nie außergewöhnlich gut. Dann Verdauungsspaziergang
über den Müllermilch-Friedhof. Helene Weigel, weil sie nicht über unrealistische
Zylindervasen diskutieren wollte, liegt noch immer zur Strafe in der Ecke; auch
Nelly Kröger hat‘s nicht besser erwischt (worüber hat sie nicht
diskutieren wollen?). Herbert Marcuse trötet weiter sein Weitermachen!,
Fritz Teufel hat sich ein hoffnungsvolles „wenn‘s der Wahrheitsfindung
dient“ in – oder besser: auf den Stein meißeln lassen, Besucher haben
Büchsen voller Stifte auf Christa Wolfs Grab gelegt: Weiterschreiben?, die
Erinnerung an Heiner Müller verblasst nicht nur, wie Jörg Sundermeier morgen verraten
wird, im wirklichen Leben, auch auf dem überhaupt nicht zylindrischen Grabstein
ist sein Name kaum noch zu erkennen, JoJa verrät mir liebenswürdigerweise,
dass John Heartfield nicht zufällig neben der Familie Herzfelde begraben liegt
(wusste ich bislang gar nicht), eine dicke schwarze Katze streift, wie in einem
Text von Wiglaf Droste, über die Wege, Otto Sander wird von einem Fabelwesen
bewacht, die schwülstigste Inschrift aller Zeiten ziert weiters das Grab des
nie verurteilten Freundinnenmörders Johannes R. Becher, den schönsten Grabstein
hat Karl Mickel – und Wolfgang Hilbig finden wir nicht.
Finden.
Was ich hingegen finde, ist schön.
Also ich finde es wirklich schön, direkt am Fenster zu sitzen den ganzen Tag
lang und herausgucken zu können. Ständig karren Postboten in kurzen, dunkelbeigen
Hosen Stapel von Paketen geheimnisvollen Inhalts heran, wie früher in den
Mafia-Filmen mit Robert de Niro, wichtige Menschen laufen auf und ab, und diejenigen
unter ihnen, die sich am wichtigsten nehmen, sie laufen nicht etwa, nein nein, sie
fahren. Sie fahren auf Dingern, die in der Provinz DeoGoethe-Roller heißen, tragen
Helme mit albernen Mustern drauf und demonstrieren quatschend &
quietschend ihren kreativen, selbstmotivierenden, flexiblen, flachhierarchigen,
ganzheitlichen, innovativen, eigenverantwortlichen, nachhaltigen, freiheitlich-demokratischen,
selbstoptimierenden und immer höchst individuellen Teamspirit. Yes, it smells
like team spirit, und es sieht sehr putzig aus, aber am putzigsten ist die
mollige Dame, welche einen gestauchten, elsterglänzenden Miniaturfernsehturm
spazieren trägt. Das finde ich richtig schön. Und wer auch was findet, ist
Ellen Schernikau, und zwar findet sie ganz schnell die Fassung wieder: JoJa
kommt vom Klo, begegnet ihr, sie fragt: Ist das hier die Mädchentoilette?
Kuckt ihn an und sagt: Oh nein, das ist sie nicht…
Dritte Runde: Geschlecht und Grenze.
„ich möchte, dass rummel ist. ich
weiß, das ist sentimental, aber so schön.“ Nach den kurzweiligen Vorträgen
bislang wird’s nun akademisch. Wichtige Fremdwörter, und selbstverständlich
werden Grenzen gesucht, erfahren und überschritten, als sollte der romantische
Anarchist Heinrich Böll Recht behalten mit seinem: Man muss die Grenze
überschreiten, um zu wissen, wie weit man gehen darf. Unter dem machen
sie’s nicht. Dann werden „Räume schwuler Subkultur“ geöffnet (als ob man
da gern reinkucken würde), und das Coming Out nimmt man ganz wörtlich: als
ein Herauskommen (aus der Milchglasglocke der sich bislang (hermetisch!)
abschirmenden Subkultur), als eine Bewegung im Raum. Raus aus den Klappen,
rein in die Straßen! Und als der durchaus sympathische Vortragende meint,
die Treppe, auf der sich zwei der vier Protagonisten aus So schön begegnen,
sei in der Psychoanalyse ein Symbol für den Geschlechtsverkehr, da denke ich
nur kurz: Halt! Ist es nicht so, dass Schwule, um die es sich ja handelt in
diesem Drehbuch zu einem utopischen Film, also dass Schwule vorzugsweise
Sex haben als dass sie Geschlechtsverkehr ausüb(t)en? Jedenfalls, so der
Vortragende weiter, sei die Zahl vier in Schernikaus utopischen Film die
utopische Zahl – das vierblättrige Kleeblatt der kommunistischen Liebe auf dem
Rummelplatz: Wir Vier
zwei / an einem Bungeeseil / wär das nicht geil…
Vierte Runde: Die Schönheit von Ost-Berlin und die Zerschlagung der Gewerkschaften.
John von Düffel unterbricht seine
Probearbeiten kurz und kommt herüber vom großen DT zu uns ins kleine
Brechtforum. Erzählt von dem Theaterstück, welches ich mir mit JoJa am 9.
November letzten Jahres angeschaut hatte, wirklich perfektes Timing damals, und
auf JoJas Frage, wie es zur Zusammenarbeit mit Margit Bendokat gekommen sei,
antwortet von Düffel mit einer Gegenfrage (die Schernikau mal gestellt hat?): „Wie
schafft es Margit Bendokat, gleichzeitig Margit Bendokat und sie selbst zu
sein?“ Jedenfalls, um nicht durchzudrehen, dreht sich alles in dem
Bühnenstück um Irene Binz, die vier Ronis, die Insel (die auch das Land ist),
alle drehen sich um die Mutter, und die Mutter ist die Sonne. Und die richtige
Mutter hier im Saal, sie sagt, die Lieder, die in dem Stück gespielt wurden, seien
Ronis Lieblingsschlager gewesen.
Das ist das Stichwort für Christian Jäger, er stellt uns Musik vor, allerdings keine Schlager, sondern mehr oder weniger nördige Postpunk-Mugge gegen das Bürgertum und die Hippies, Musik von den Krupps, Walter-Ulbricht-Schallfolien, Fehlfarben (Grauschleier), Human League, Sozialistisches Patienten-Kollektiv, Scritti Politti, Kosmonautentraum. Das hat zwar alles nichts mit Schernikau zu tun, zumindest, was den Musikgeschmack betrifft, aber zeitgeschichtlich und auch politisch passt es freilich. Der Vortragsbogen wird gespannt von einem Foto Lewis Hines‘ zu den Versuchen Billy Braggs, die popmusikhörenden Jugendlichen zu politisieren. In Großbritannien seien gerade die Mine Workers Unions zerschlagen worden, und auf die auch damals noch aktuelle Forderung der Wirtschaftswunderkinder nach kürzeren Arbeitszeiten habe der Kapitalismus sehr vergnügt reagiert, er sagte: Ihr wollt mehr Freizeit? Könnt ihr haben. – Und führte die Massenarbeitslosigkeit wieder ein… Thomas Meineckes Nicht-vor-Ort-Sein wird bedauert (er sei eingeladen gewesen, habe aber leider aufgrund von Zeitmangel absagen müssen), und Jäger liest Auszüge aus einem durchaus gelungenen Mode-und-Verzweiflung-Text Meineckes, es ist die Geschichte von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen; von einem, der der stets freundlichen Aufforderung folgte und „nach drüben“ ging.
Sag ja!
Juchteln, es dämmert draußen schon, kurz
ins Café Cinema am Hacks’schen Markt. War ja schon mal hier mit
Thomas, und auch JoJa war mal hier, aber nicht mit Thomas, sondern mit Hannes,
und JoJa erzählt mir die Breakfast-at-Tiffanys-Geschichte, die er mit
Hannes erlebt hatte damals. Dieser habe ihn eingeladen zum Essen und noch mal
zum Essen, Blumen hätten auf dem Tisch des Restaurants gestanden, und an einem
einzigen Tag seien die hundertfünfzig Euro, die Hannes monatlich zum Leben gehabt
habe, alle gewesen. So sei er gewesen, ein bisschen verrückt. Dann laufen
wir rüber zu den Sophiensälen, und um in einen dieser Säle hineinzukommen,
braucht man eine Eintrittskarte. Weil wir ein bisschen spät dran sind, kommen
wir namentlich auf eine Warteliste, es ist ein bisschen wie früher in der DDR, eine
beinahe vergessene Duldsamkeit bewegt die Wartenden, oder richtig: lässt sie
verharren. Bis endlich die Namen vorgelesen werden, Bewegung kommt in die
Schlange, es wird gescherzt, und am Ende haben alle Glück und bekommen eine
Karte. Für Jens Friebe, der singen, und Anna Becker, die aus legende lesen
wird. Mittendrin muss ich mal dringend, verlasse also den Saal, und als
ich wieder rein will, geht das nicht, weil sich die Tür nur von innen öffnen
lässt. Schon wieder so ein ulkiges DDR-Erlebnis. Das kann man doch nicht
machen. Das muss man doch anders lösen. Zum Glück hab ich noch mal Glück heute
Abend, JoJa liest meine SMS und öffnet mir die Tür. Und so sitze ich
rechtzeitig auf meinem Platz, um den Höhepunkt des gut einstündigen Programms
mitzuerleben, das fröhlich-flehende Lied Sag ja!
Wieder draußen, ist ganz viel internationales Vergnügungspublikum
unterwegs, zur großen Freude von Christiane Rösinger bestimmt – und erst
Recht zu meiner:
Da vorn läuft Johnny Rotten. – Schock!
Er trägt, oh nein!, nen Schottenrock.
Erkenntnis des Tages I.
Nicht selten, sagt Dietmar Dath,
würden Leute entlassen, die in der FAZ das Wort machen verwendeten
– und nicht etwa das wirklich blöde Wort Machern.
Erkenntnis des Tages II.
Wenn es stimmt, dass Lügen kurze
Beine haben, dann kann ich guten Gewissens daraus schließen, dass JoJa stets
die Wahrheit sagt.
Fünfte Runde: Elsner und Hacks.
Zunächst wird die Freundschaft
zwischen Gisela Elsner und Schernikau thematisiert. Die Dichterin habe sich
beschwert, dass Roni sie als Dichterin bezeichnete in die tage in l.,
als geniale gar (und passenderweise fragt die ZEIT von gestern, ob
Genialität männlich sei) mit den Worten: „Ich bin eine schmutzige
Satirikerin.“ Dichter seien so Leute wie Rilke, Brecht, Thomas Mann oder
Goethe gewesen. Viel ist auch von Eitelkeit und Neid die Rede, und von ihrer
Vorliebe für kostspielige Kostüme und Luxushotels. Ja, Luxus für alle.
Aber weil‘s noch nicht so weit war damals mit dem Luxus für alle, wird geschimpft
und analysiert: Mutterschaft, zum Beispiel, sei eine Erniedrigungsstrategie
des Patriarchats. Das habe die Dichterin gesagt, die auch Mutter war und ein
sagenumwoben schlechtes Verhältnis zu ihrem Sohn hatte, weswegen sie sich Roni
als Pflegekind ausgesucht habe gewissermaßen. Krönung der Ehre, die sie
Schernikau erwies, sei gewesen, ihm ihren Nachlass anzuvertrauen; in Unkenntnis
der Tatsache, dass Schernikau zu diesem Zeitpunkt bereits schwer krank war. Es
wird ein bisschen weiter geplaudert, dann kommt die Wende, und nach der Wende
habe sich die Elsner gegen alle Ratschläge entschieden, von München nach Berlin
zu ziehen, nach Weißensee, in ein Mietshaus voller Spießer. Drei Tage später
sei sie wieder in München gewesen und habe gesagt, sie werde nie wieder einen
Fuß in die DDR setzen, die es zwar damals nicht mehr gab – aber irgendwo doch
noch.
Der DDR nach seinem Umzug nie untreu geworden war Peter
Hacks, um den es im nächsten Vortrag geht. Konkret um seinen kurzen
Briefwechsel mit Schernikau, und einer der beiden (wer wohl?) wird von André
Thiele als „großer Betrüger der deutschen Literatur“ bezeichnet, „wobei
der Betrogene nach der Lektüre reicher ist.“ Eine sehr liebevolle Art der
Lügenlümmelei, wobei man nicht etwa einen Vorteil für sich selbst herbeiwünscht,
sondern anderen einen tatsächlichen Vorteil verschafft. Dann kommt die Frage
auf, ob Schernikaus Literatur für Hacks realistisch, aphoristisch, naturalistisch,
pseudorealistisch, postmodern oder gar das gewesen sei, was im Westen gern Frauenliteratur
genannt wird (zu allem Übel auch noch fabriziert von einer „Westberliner
Trümmertunte“) – da meldet sich, wie von der Trümmertunte Tarantel
gestochen, der junge Mann mit der traurig-lichten Punkfrisur und sagt, Hacks‘
Geschlechtsbild sei ekelhaft. Die Wogen glätten sich erst, als ein noch ärgerer
Sündenbock gefunden ist, André Müller sen. nämlich, welcher viel widerlichere
Sachen in dieser Hinsicht von sich gegeben habe. Basta! Mal schauen, was
der Briefwechsel zwischen ihm und Hacks in diesem Punkt bereithalten wird (von
offener Homophobie wird gesprochen auf dem Podium). Der junge Mann aber lässt
nicht locker und fragt weiters, warum sich Schernikau „ausgerechnet diesen
Hacks“ als Mentor ausgesucht habe – und muss sich in diesem Falle belehren
lassen, dass dies allein aus ästhetischen und politischen Gründen geschehen
sei. Nobody’s perfect. Mich tangiert das Problem ja gar nicht so sehr,
mich haben Hacksens Bemerkungen stets eher amüsiert als empört, also schaue ich
mal wieder aus dem Fenster, Trams rattern vorbei, in einer sitzt JoJas Freundin
Sanne, Medienmenschen steigen aus einer schwarzen Limousine und schrauben urst
teure Kameras zusammen, und im Fenster gegenüber lehnt ein Herr und fotografiert
die Sonne, welche scheint, als würde die Finsternis ins Wasser fallen und nicht
auf die Erde.
Maybachufer.
Auf dem Höhepunkt der hellsten Sonnenfinsternis
aller Zeiten entscheiden wir uns, die sechste Runde auszulassen und zum
Maybachufermarkt zu fahren. Schlendern dort durch die schmalen Gassen zwischen
den Ständen mit Orangen, Oliven, orientalischen Kräutern und originalen
Hühnerfüßen, JoJa schnabuliert Backbananen, kauft sich einen feinen Stoff für
wenig Geld, dann spazieren wir in den Gräfekiez, JoJa holt sich eine Portion
Süßkartoffelcreme, lustige Plakate winken unterwegs, und wir rechnen aus, dass
das Leben in Berlin nicht nur viel verrückter, sondern auch viel teurer wäre.
Darauf hätte ich auch ganz alleine und ein bisschen früher kommen können,
fürwahr. Der anschließende Versuch, in der warmen Sonne Kaffee zu trinken,
scheitert zwar (wir werden nicht bedient – noch einer dieser Gründe), das macht
aber gar nichts, der kleine Ausflug ist auch so sehr erholsam. Wenn nicht
gerade Terror wäre in Tunis und auf fast der ganzen Welt.
Siebte Runde. Linker Antikommunismus und: Was wir uns wünschen.
Marlies Janz, ehemalige Lektorin im Rotbuch-Verlag,
sorgt für einen kleinen Paukenschlag, den Thomas Keck ganz souverän wegsteckt,
während Stefan Ripplinger den Saal verlässt leider. Es geht um Falschdarstellungen
bei Frings und Keck, die Veröffentlichung von kleinstadtnovelle betreffend,
und es geht um die auf schernikau.net veröffentlichte Langversion eines
Interviews, welches Ripplinger im Jahr 1987 mit Schernikau geführt hatte und in
welchem durchaus übertrieben gemeine Beschimpfungen in Richtung Rotbuch zu
lesen seien, welche Schernikau, behauptet die Janz, würde er noch leben,
niemals autorisiert hätte. Fünf Falschmeldungen korrigiert sie, und dann
plaudert sie ein wenig. Die Umarmung habe das Büchlein heißen sollen, um
zweihundertzwanzig Änderungen habe man den jungen Autor gebeten, drei Wochen
seiner Sommerferien (er war ja noch Schüler) habe Schernikau deshalb in Berlin verbracht,
auch habe man ihm erklären müsse, wie eine Novelle aufgebaut sei. Zum Schluss
sagt sie: Hätte Schernikau die sich im Nachlass befindende Langfassung der kleinstadtnovelle
als Manuskripts eingereicht, hätte sie es ihm zurückgeschickt, zu viel
DDR-Propaganda sei darin gewesen, das Büchlein habe in dieser Version weniger
einem schwulen Coming Out als einem DDR-Coming-Out geähnelt.
Thomas Keck erzählt, dass der (niedrigschwellig offene) Nachlass
Schernikaus in die Akademie der Künste wandern werde noch in diesem Jahr
wahrscheinlich. Ein Leipzig-Konvolut sei dabei, und an Schernikaus Definition
für Schönheit wird erinnert: „Schönheit ist das Versprechen, dass das werden
kann, was wir uns wünschen.“ Gedichte habe RMS datiert, Briefe hingegen
nicht. Keck sagt, dass die zentrale Frage Schernikaus gewesen sei, ob wir den
Sozialismus machen können. Und weil Schernikau diese Frage mit Ja beantwortet
habe, sei er in der Partei gewesen; deswegen habe er Gorbatschow als „Konterrevolution
an der Spitze der Revolution“ bezeichnet, deshalb lese er König Lear auch
als ein Gorbatschow-Drama, deshalb könne man sein politisches Bemühen nur
verstehen, wenn man in ihm einen Parteikommunisten sehe – einen Parteikommunisten,
der Weltliteratur hinterlassen habe.
Die siebte Runde ist ausnahmsweise eine Dreierrunde, und der
dritte im Bunde ist Jörg Sundermeier vom Verbrecher Verlag. Er lobt die
anwesende Dorothee Gremliza und zitiert einen abwesenden Verleger, welcher
während der Leipziger Buchmesse zu hören gewesen sei mit den Worten: „Wenn
ichs erst lesen muss, bevor ichs verkaufen kann, hab ich meinen Beruf
verfehlt.“ Mit Hilfe von Karl Marxens Geld-Ware-Geld-Vorlage malt
er ein Kunst-Ware-Kunst-Bild, also ein Dichter oder Schriftsteller mache
Kunst, müsse diese anschließend verkaufen, wodurch die Kunst zur Ware werde,
doch sobald ein Kunde die Ware kauft, böte sich ihm die Möglichkeit, aus der
Ware wieder Kunst zu machen (Voraussetzung sei naturgemäß die Lektüre). Dann
erzählt er von der legendären Dresdner Bücherertränkung im Jahr 2002,
von den bereits veröffentlichten Schernikau-Büchern und – besonders spannend –
von der geplanten Werkausgabe mit oder ohne Hardcover und mit oder ohne
Briefwechselband. Ihn als Verleger interessiere selbstredend die Leserschaft,
man müsse ja auch kalkulieren, und für ihn teilten sich die Schernikau-Jünger
in zwei Gruppen. Gruppe eins: eine junge, politisch aktive, linke Leserschaft.
Gruppe 2: eine etwas ältere, politisch aktive, linke Leserschaft.
In der Diskussion ohne Ripplinger einigt man sich schnell,
dass man, ebenso wie Schernikau, auch Dietmar Dath nicht als SPD-Liebhaber
lesen könne (falls nicht ganz klar sein sollte, wie ich das meine: es ist
beides gemeint). Bei Frings‘ Biographie hingegen ginge das sehr wohl (und das
war wohl auch der Grund, warum ich anfangs ein bisschen streng war mit Frings,
dabei kann er ja gar nichts dafür – nur dass er nicht anwesend ist bei der
Tagung, dafür kann er was, und auch das hat seine Gründe). Frings‘ Buch
jedenfalls sei für Sozialdemokraten geschrieben, die vielleicht gar nicht
wissen, dass sie welche sind (wobei es darauf auch gar nicht ankäme).
Achte Runde. Das Interview. Klug und keck.
Zum Schluss Erika Runge, Autorin der
Bottrop-Protokolle. Vier Wochen vor Schernikaus Tod hat sie ihn
interviewt im Krankenhaus. Sie erzählt ein wenig aus ihrem Leben als zwischen
1956 und 1968 verbotene Kommunistin, ihren Berufserfahrungen, und dann, als
krönender Abschluss der Konferenz, sind Ausschnitte aus dem Interview zu hören,
welches seinerzeit vom RIAS gesendet wurde. Das ist ein sehr rührendes
Protokoll, Roni, schon sehr geschwächt, wie man sich leicht vorstellen kann,
klingt überhaupt nicht so, seine Stimme ist stark und zart, und er legt eine kluge
Lebensfreude und kecke Heiterkeit an den Tag und in den Abend, die mich
sprachlos macht…
Rücksichtslos und rücksichtsvoll.
Draußen dämmert es, jetzt ist
wirklich Sonnenfinsternis, aber die regt keine Menschenseele auf. Essen schnell
ne Pizza in dem Eck-Restaurant, an dem wir nun schon drei- oder viermal
vorbeigelaufen sind. Am Nachbartisch ein balzendes Pärchen, das ganze Programm,
das sich über mehrere hundert heterosexuelle Jahre eingespielt hat, wird
abgespult von den beiden immer enger Zusammenrückenden. Am Tisch in meinem
Rücken hingegen sitzen zwei junge Männer, sie sind ganz leise, schüchtern,
geradezu rücksichtsvoll dezent. Einer der beiden ist sehr jung, zu jung vielleicht,
und der andere, auch jung, aber ein ganzes Stück älter, versucht, der Situation
die möglicherweise vorhandene Brisanz zu nehmen durch eine leicht aufgesetzt
wirkende, kühle Aufmerksamkeit signalisierende Haltung.
Doppelte Legende.
Eine ganz anders brisante Veranstaltung
dann die Lesung mit Thomas Neumann, einer Legende, wie Thomas Keck meint, er
schaut aus, wie ich mir Käpt’n Brise vorstelle (kennt den noch jemand?), und er
liest, nomen est omen, aus legende. Sehr prononciert, zu
prononciert am Anfang für meinen Geschmack, doch später, auf dem rasanten
Höhepunkt der Handlung, wird mir klar, dass die anfängliche, durchaus leicht
affektiert wirkende Gemächlichkeit des Vortrags ein äußerst treffsicheres stilistisches
Mittel war.
Offene Fragen.
Wieder mal erst hinterher komme ich
auf ein paar Fragen, die ich durchaus hätte stellen können. Zum einen, ob sich
Roni und Rio gekannt hätten; zum nächsten, wie die durchaus vorhandenen
Ähnlichkeiten in den Texten von Schernikau und Montaigne zu bewerten seien (Ripplinger
nahm gestern Bezug auf Schernikaus weltberühmten Mitleid=Selbstmitleid-Artikel).
Und zum dritten, wie Roni mit seiner HIV-Infektion umgegangen sei.
Pferd und Möwe.
Laufen nach der Lesung schnell in
Richtung Hauptbahnhof, der ist gleich um die Ecke, einfach die Invalidenstraße
entlang, den Gleisen der Straßenbahn folgend. Kommen pünktlich an. Links von
uns, auf dem Treppenpodest vor dem Nebeneingang des Hintereingangs des
Hauptbahnhofs, der im Dunkeln weniger einem Bahnhof als einem mehrgeschossigen
Glaskasten gleicht, durch welchen die Züge durchfahren ohne sich wehzutun hoffentlich,
hat sich eine Pferdeplastik aus Edelstahl kreisrund und auch ein bisschen
scheckig gelacht. Rechts von uns, gegenüber des Hintereingangs des Hauptbahnhofs
werden derweil Möwenschwingen in hellen Beton gegossen, welche als
Unterstand dienen sollen für zukünftige Tramfahrgäste. Gefangen sind wir in Tiermetaphern,
aber zum Glück verlassen wir diesen Ort bald, unser Stahlross fährt gerade ein…
Perlentauchgänge.
Heute die taz und die junge
Welt berichten vom Schernikau-Kongress. Die taz kapriziert sich
weniger auf die Vorträge als auf den Veranstaltungsort und die Besucher – das
kann man ruhig machen, dann sollte man allerdings genauer beobachten. JoJa wird
in dem Artikel erst geklont, dann jünger gemacht, und zum Schluss werden ihm dunkle
Haare und ne Metallbrille angedichtet, dabei war‘s und ist‘s doch ganz anders: „Es
kommen viele junge Leute Anfang, Mitte 20. Sogar ein paar [sic!] Schernikau-Lookalikes:
mittellange dunkle [sic!] Haare, zum Zopf gebunden. Große runde [sic!]
Brillengestelle aus Metall [sic!]. Sie haben die DDR nicht mehr
erlebt [sic!], doch Schernikau lockt sie.“ (Stefan Hochgesand, Der schöne, schwule Kommunist, in: taz, 23. März 2015).
Kai Köhler hingegen berichtet kurz und knapp, wie sich’s
gehört, und dass die Konferenz erst der Anfang – wie ja auch Schernikau nicht
der letzte, sondern viel mehr der erste Kommunist gewesen sei.