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9. November 2009
Tief bewegt verfolgt Herr Maffrodit am Abend die farbenfrohen Wetten-daß...?-Bilder der großen Feier anlässlich des 20. Jahrestages der Mauerverschiebung im Fernsehen. Verantwortliche und Nutznießer parlieren, Thomas Gottschalk moderiert, Jon Bon Jovi trällert, Mauerblöcke purzeln um und Schirmherren halten Schirme. Große Worte und große Gefühle, die, denkt Herr Maffrodit, dem Bewusstsein der Deutschen gerecht werden, selbst Schuld gewesen zu sein an dem Mauerschlamassel. Die Kanzlerin grüßt ihre Parteifreunde, was vor allem die Dame Clinton und die Herren Gorbatschow, Walesa und Sarkozy hoch amüsiert, sie beschwört die Freiheit, die es ihrer Familie ermöglichte, in den wärmenden Schoß der DDR flüchten zu können (1954) und gibt – erstmals an diesem Abend auf den historisch bedeutsamen 9. November zu sprechen kommend – ihrer Erleichterung Ausdruck, dass die Berliner sich an jenem Tag des Jahres 1989 die Freiheit nahmen, mit ihren brennenden Kerzen ausnahmsweise mal nicht in die Häuser zu rennen und diese anzuzünden (wie am 9. November 1938). Dann erinnert sie an den 9. November 1799 (Niederlage der Französischen Revolution, von der wir unsere Werte hätten, dann an den 9. November 1848 (Niederlage der deutschen bürgerlichen Revolution, die einen Teil dieser Werte habe verwirklichen wollen) und den 9. November 1918 (Niederlage der deutschen sozialistischen Revolution, die sich den anderen Teil dieser Werte auf ihre roten Fahnen geschrieben habe). Sie sagt, dass es jetzt, wo sich gezeigt habe, dass der Kantersieg des westlichen Kapitalismus ein Scheinsieg war, darauf ankomme, endlich die liberalen, den ewigen Frieden durch freien Handel (Immanuel Kant) zum Ziel habenden, und die sozialistischen, die friedliche und freie Assoziation der Produzenten (Karl Marx) anstrebenden Werte zusammenzubringen, weil sie zusammengehörten. Gänzlich gerührt ist Herr Maffrodit, als sie auch noch mahnt, die Mauer, welche bekanntlich nicht geöffnet, sondern lediglich verschoben wurde nach Osten und Süden, auch für Neger, Fidschis und Latinos zu öffnen, damit auch die endlich reisen und die Wunder der Freiheit genießen können ohne Angst haben zu müssen, kurz vor Lampedusa im Meer zu ersaufen, in ukrainische Menschenhändlerfänge zu geraten oder an der Grenze zu Arizona erschossen zu werden. In einer bewegenden Schweigeminute wird den Zehntausenden Mauertoten seit 1990 gedacht.
Erfreulich findet Herr Maffrodit vor allem, dass sich nicht, wie befürchtet, die ganzen neurotischen SED-, Ost-CDU-, West-CDU und Dissidentenverschwörer für ihren Anteil an der Mauerverschiebung im Fernsehen feiern lassen dürfen (weder Schabowski, noch Krenz, Modrow, Kohl, de Maiziere, Köhler, Biermann oder Lengsfeld sind zu sehen), sondern die vielen beherzten Menschen, die damals für Anstand und Vernunft auf die Straße gingen und nach dem 9. November auf heillose Weise vom Bananenpöbel überschrieen wurden. So wird, denkt Herr Maffrodit, ganz entschieden dem Eindruck entgegengetreten, dass es besser sei fürs Volk, sich von einer korrupten Bande regieren zu lassen, als selbst die Zügel in die Hand zu nehmen. Krönender Abschluss der Veranstaltung im immer noch strömenden Regen sind die großen Worte der Kanzlerin, dass vor genau 20 Jahren der Kalte Krieg endete und der Heiße Frieden begann.
Plötzlich erwacht Herr Maffrodit; er schaut genauer hin, sieht purzenlde Dominosteine und gerät ins Grübeln. Er weiß nämlich, dass, wer es nötig hat, salutierende Jungpioniere (7. Oktober 1989) oder kreischende Hauptschüler (9. November 2009) zu ordern, um eine Feier noch pompöser wirken zu lassen, das nicht ohne Grund tut...
Donnerstag, 10. November 2011
Sonntag, 11. September 2011
Aus Anlass des Jubiläums I
Im Jahre 1911 warfen italienische Flugzeuge Granaten auf einige Dörfer in der libyschen Wüste.Dieses Experiment zeigte, dass Angriffe vom Himmel aus zerstörerischer, schneller und billiger waren als Bodenoffensiven. Die Luftwaffenführung berichtete:„Das Bombardement hat eine wunderbare Wirkung in Bezug auf die Demoralisierung des Feindes gehabt.“Die nächsten Versuche waren gleichfalls europäische Massaker an arabischen Zivilisten. Im Jahre 1912 griffen französische Flugzeuge Marokko an und wählten Orte mit vielen Menschen aus, um ihre Ziele nicht zu verfehlen. Und im darauffolgenden Jahr führte die spanische Luftwaffe, auch in Marokko, die eben aus Deutschland eingetroffene Neuheit ein: höchst wirksame Streubomben, die todbringende Stahlsplitter versprengten.Von da an...
(Eduardo Galeano, Erfindung der Luftangriffe, in: Fast eine Weltgeschichte)
Sonntag, 29. Mai 2011
Kapitel 4
SONNABEND, 2. APRIL
Sonnentag am Baumhaus. Zwischendrin Einkauf. Kleiner Aufstand in der Rewe-Kaufhalle, weil die Bratwürste alle. Das Wesen des Thüringers offenbart sich an der Theke mit den Toten.
Aufgeschnappt: Die Kanzlerin vollführe, was ihre Atompilzpolitik angeht, gerade eine 360-Grad-Wende: die ersten 180 Grad habe sie bereits genommen.
Die Wärme, die Befürchtung und die Fernsehbilder aus Fukushima verbinden sich im Garten. Sommerwetter (25 Grad im Schatten) und noch kein einziges Blättchen an den Bäumen: als hätte der radioaktive Dunst nicht nur die Luft aufgeheizt, sondern auch die Bäume entblättert.
SONNTAG, 3. APRIL
Semmel abgeholt über die Felder zum Topmodels anziehen, Mittagessen, Fußballspielen.
Am Nachmittag Wanderung mit ihr und Perle zum Lindenhof, meckernde Lämmer und blökende Hammel begucken. Perle wie er leibt und lebt mit Riesenrespektabstand. Auf dem Heimweg erst ein paar Tropfen von oben und dann ein Donnergrollen, das die Kinder das Wimmern („Ich habe Angst, Papa!“, Semmel) und Kreischen („Mamiline, rette mich!!!“, Perle) lehrt. Dichte am Abend, aus aktuellem Anlass und während Semmel wieder magersüchtige Topmodels anzieht, Wishful Thinkings Hiroshima (Sandras Version wich im Text leicht ab) ein ganz kleines bisschen um und verpasse dem hübschen Song einen fetzigen ostasiatischen Beat (kann man hier leider (noch) nicht hören):
Am Nachmittag Wanderung mit ihr und Perle zum Lindenhof, meckernde Lämmer und blökende Hammel begucken. Perle wie er leibt und lebt mit Riesenrespektabstand. Auf dem Heimweg erst ein paar Tropfen von oben und dann ein Donnergrollen, das die Kinder das Wimmern („Ich habe Angst, Papa!“, Semmel) und Kreischen („Mamiline, rette mich!!!“, Perle) lehrt. Dichte am Abend, aus aktuellem Anlass und während Semmel wieder magersüchtige Topmodels anzieht, Wishful Thinkings Hiroshima (Sandras Version wich im Text leicht ab) ein ganz kleines bisschen um und verpasse dem hübschen Song einen fetzigen ostasiatischen Beat (kann man hier leider (noch) nicht hören):
There’s a shadow of a man at Fukushima
where he’d pass the noon
in a wonderland at Fukushima
‘neath the August moon
And the world remembers his face
- remembers the place was here..
Fly the metal bird to Fukushima
and away your load.
Speak the magic word to Fukushima
let the sky explode.
And the world remembers your name
- remembers the flame was…
Fuuu---kushima.
MONTAG, 4. APRIL
Westerwelle weg (vom Parteivorsitz und auch kein Vizekanzler mehr). Ein bisschen traurig, weil ich ihn durchaus, im Rahmen meiner Möglichkeiten, liebgewonnen hatte in den letzten zwölf Monaten – seines tatenlosen Schweigens, seines stillen Stillehaltens wegen. Keinen Schaden anzurichten ist ja leider das Beste, was ein FDP-Politiker heutzutage zu vollbringen vermag (Ausnahmen wie Frau Leutheusser-Schnarrenberger bestätigen die traurige Regel). Nichts war mehr zu hören von freiheitlich-demokratischen Bescheuertheiten a la: Wer arm ist, der will das so, denn wollte er es nicht, wäre er ja reich. Idiotischerweise stürzte Westerwelle nicht etwa über die völlig verrückte Gleichmacherei, der er stets und ständig das Wort sprach, sondern über das einzige Verdienst, dessen er sich seinem Volk gegenüber schuldig gemacht hatte: es war zu großen Teilen SEIN Erfolg, im September 2009 einer potentiellen 3-Prozent-Partei geradezu himmlisch anmutende 14 Prozent der Wählerstimmen beschert zu haben. Heute, wo die Partei bei immer noch famosen 5 Prozent liegt, muss Westerwelle gehen. Aber er wird wiedergekommen; zwar nicht in der FDP, dafür jedoch in einer noch zu gründenden Partei des anstandslosen Wohlstands. Denn mit diesem Thema kennt Guido sich bekanntlich bestens aus. Der Jurist, der mal in Papas Kanzlei aushalf, wird im Übrigen von dem Arzt (Rösler), der niemals eine Praxis hatte, als Parteivorsitzender abgelöst.
DIENSTAG, 5. APRIL
DIENSTAG, 5. APRIL
Am Morgen im Park sitzt Semmel und zeichnet des Geheimrats Gartenhaus ab. Fragt mich, wohin ich führe und was ich in meiner Tasche hätte. Verbringe den Tag in der Bibliothek. Erst Frühlingsgefühle (Erdbeermund, Kirschauge, Apfelbacke, Stachelbeerwade) ... dann Fukushima: Nachdem man, der Strahlung wegen, vor ein paar Tagen Planen über das Atomkraftwerk gelegt hatte, wird heute versucht, lecke Leitungen mit Stroh zu stopfen.
Am Abend Fußball im Fernsehn: Schalke spielt mit neuem alten Trainer (Rangnick) und nicht wenigen Spielern, die sein Vorgänger (Magath) in der vierten Liga rumpeln ließ, beim Championsleague-Titelverteidiger Inter Mailand. Nach 25 Sekunden das 1:0 für Mailand. Was folgt in der ersten Halbzeit, ist ein offener Schlagabtausch, bei dem die Schalker gegen jede Wahrscheinlichkeit nicht untergehen. Zur Pause 2:2 (nach zweimaliger Inter-Führung), und auch nach der Pause geht es so weiter. Mit dem kleinen Unterschied, dass Inter erst zwei oder drei Riesenchancen vergeigt, dann in Rückstand gerät, beeindruckt ist, kurz darauf ein Eigentor kassiert, geschockt ist, und eine durchaus unberechtigte gelbrote Karte hinnehmen muss. Es steht 2:4 nach Toren und 10:11 nach Männern, es sind gerade mal 60 Minuten gespielt, und Inter ist unverständlicherweise vollkommen demoralisiert. Kein Witz! Statt, wozu sie durchaus in der Lage gewesen wären, weiter nach vorn zu spielen, um wenigstens 5:4 oder 6:4 zu gewinnen, stecken die Italiener auf, knicken ein, fangen sich noch das 2:5 und sind gut bedient, dass es dabei bleibt. Nicht der Sieg, nicht die Höhe sind das Erstaunliche, sondern die Tatsache, dass der Titelverteidiger bereits nach 60 von insgesamt 180 (oder gar 210 Minuten) Minuten aufgibt. Ja, und weil das alles nicht wahr sein kann, tippe ich beim Rückspiel auf folgendes Ergebnis: Schalke 04 gegen Mailand 0:4.
MITTWOCH, 6. APRIL
Binsenweisheit des Tages. Es gibt Menschen, die sind sowohl gegen jeden Schmerz als auch gegen jeden Scherz resistent.
Stürmischer Tag. Um zwölf Mittagssüppchen mit S. und T. in Anselms viel zu teurer Suppenbar.
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Im Rotlichtviertel |
FREITAG, 8. APRIL
Spaziergang am Karl-Heine-Kanal entlang durch Plagwitz. Sehr anmutiger Arbeiterstadtteilcharme. Erich-Zeigner-ALLEE! Clara-Zetkin-PARK. Und immerhin eine Kurt-Eisner-STRASSE und kein -Gässchen. Kleines kommunistisches Namensparadies. Zwei kleine Ein-Euro-Büchlein gekauft (Rosa Luxemburg und Lenin). Mittagessen im indischen Bistro gegenüber der Mensa am Park (Spinatkartoffeln mit Reis für 3,50 Euro). Flaniere durchs Zentrum dieser wirklich genau so schönen wie preiswerten Stadt. Ein Rentnertouristenpärchen über Auerbachs Keller: „So was Schönes gibt’s in keiner westdeutschen Stadt!“
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Eine Stadt zum Verlieben |
SONNABEND, 9. APRIL
Am Morgen das Fahrrad repariert (Bremsen eingestellt und Kette geölt). Baumhaus, Mittagssuppe, Baumhaus, Semmels Vorspiel im Coudray-Saal der Musikschule besucht. Das Publikum lobt, die Klavierlehrerin tadelt. Die Architektur des Saales: Eine Mischung aus romantischen Pastellfarben, biedermeierlichen Deckenblumen und neoklassizistischen Säulen; eine, wie es mir scheint, dreifache Verhohnepiepelung Coudrays. Im Vorgarten die Tulpen schließen ihren Blüten.
SONNTAG, 10. APRIL
Binsenweisheit des Tages.
Der eine lebt auf eigene Verantwortung, der andere lebt auf eigene Verantwortungslosigkeit.
Baumhauserdarbeiten, Suppe, dann Semmel abgeholt um zwei in G. Auf dem Heimweg Torsten und Nikita getroffen. Torsten liest Hessels Empört euch! und Semmel ganz begeistert von Nikita, der schwarzen Hündin. Verabschieden uns an der Goethewanderwegscheide, und Torsten verspricht, nachher zum Kaffeetrinken vorbeizukommen. Macht er dann auch, und Semmel mit leuchtenden Augen und offenem Mund wegen des Hundes und der Pferde, von denen Torsten erzählt.
Baumhauserdarbeiten, Suppe, dann Semmel abgeholt um zwei in G. Auf dem Heimweg Torsten und Nikita getroffen. Torsten liest Hessels Empört euch! und Semmel ganz begeistert von Nikita, der schwarzen Hündin. Verabschieden uns an der Goethewanderwegscheide, und Torsten verspricht, nachher zum Kaffeetrinken vorbeizukommen. Macht er dann auch, und Semmel mit leuchtenden Augen und offenem Mund wegen des Hundes und der Pferde, von denen Torsten erzählt.
„Da würde ich subjektiverweise sowohl typische als auch und vor allem strikte rassische Abstufungen treffen wollen. Gerade bei allen Arten von Kinesen. Die haben für mich eher was Äffchenartiges.“
DIENSTAG, 12. APRIL
Stürmischer Regen am Morgen. Nur noch sieben Grad. Zwei Jungs auf der Straße streiten sich. Sagt der eine zum andern: „Halt gefälligst deine Klappe, wenn du mit mir sprichst!“
Am Abend D. zu Besuch. Reden, schauen Schernikau bis halb zwei.
MITTWOCH, 13. APRIL
Schalke gewinnt ein zweites Mal gegen Inter (diesmal 2:1) und zieht ins Halbfinale ein: London Calling?
DONNERSTAG, 14. APRIL
Mache mir eine Liste, auf der steht, was noch alles zu erledigen ist. Überschrift: Nur nicht den Kopf verlieren! Treffe auf dem Weg in die Mensa Erik. Essen zusammen und quatschen anschließend in der M18 und bis halb fünf ungefähr. Über Leipzig, Literatur, Joseph Fischer und Hans Magnus Enzensberger, den Freitag und die taz.
SONNABEND, 16. APRIL
SONNABEND, 16. APRIL
Gegen Mittag M.. Fahren zusammen in die Stadt. Erst Bibliotheken, dann Mittagssüppchen im ACC. Ein paar Besorgungen für die morgige Grillparty. Kaffeetrinken zu Hause (Schwiegermutterkuchen mit Drachenfrucht innen drin, eine tief rote, sehr süße und also sehr klebrige Angelegenheit).
Am Abend Hochzeitsfeier im Reithaus. Wenn man die hundert beklunkerten Gäste beim Fressen beobachtet, weiß man alles (besser: man glaubt, alles zu wissen). Jedenfalls hat die Braut keinen einzigen Blumenstrauß erhalten – auf ausdrücklichen Wunsch natürlich: das Paar wollte nichts als Geld haben, und das bekam’s dann auch. Ordentliches italienisches Buffet, gutes Bier, ein bisschen Show (Cheerleaders, Wackeltenöre) und Radio-Top-40-Disco. Smalltalk mit T., längeres Gespräch mit einem ehemaligen Studenten, dem zerschundenen G., Enkel (?) der G.s, die bis Mitte der Neunziger im Haus am Horn wohnten (der Großvater (?) war Professor an der HAB, später im Ministerium und nahm sich in der Wendezeit ordnungsgemäß das Leben). Der Zerschundene ist mit seinem Sohn da (zehnte Klasse, Hitlerfrisur). Halb drei zu Hause.
SONNTAG, 17. APRIL
Bei den Pferden, die teilweise mit (in?) Burka verhüllt wegen der (gegen die) Fliegen. Halten uns knapp drei Stunden auf und fahren dann zur Lagerfeuerstelle unterhalb der Lobdeburg. Dort bis kurz nach elf mit Blick auf die Lichter der Stadt. Die Mädchen, Semmel voran, den halben Tag mit Handyspielen beschäftigt.
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Haflinger |
DIENSTAG, 19. APRIL
Eine hübsche Begebenheit im Meldeamt. Beantrage dort einen neuen Personalausweis. Auf die Frage der jungen, solariumgebräunten Mitarbeiterin, ob ich eine weitere Staatsangehörigkeit besitze neben der bundesdeutschen, ich: Na ja, die DDR gibt’s ja nicht mehr. Sie: Die DDR war doch kein Staat (sondern, frage ich mich, ein Unrechtsregime?). Ich: Da täuschen Sie sich aber, ich selbst war einst Bürger dieses Staates.
Am Abend auf zwei Bier bei A. Sehr herzliche zwei Stunden.
Am Abend auf zwei Bier bei A. Sehr herzliche zwei Stunden.
MITTWOCH, 20. APRIL
Gegen Verschwörungstheorien.
Wenn man einmal und ernsthaft beginnt, daran zu glauben, Neil Armstrong sei niemals auf dem Mond gewesen und die Politiker bekämen ihre Aussagen, also Kehrtwenden, von einer geheimen Supersoftware souffliert, in welche alle Äußerungen, Stimmungen und Meinungen des Volkes eingespeist und in Windeseile in eine Kanzlerinnenrede übersetzt werden – wer nun einmal und ernsthaft beginnt, an so was zu glauben, der ist auf dem besten Wege, verrückt zu werden.
DONNERSTAG, 21. APRIL
Kurz nach eins auf der Terrasse hinterm Büro zum Mittagsostergrillen.
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Obstblüte |
KARFREITAG, 22. APRIL
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Jörg und Semmel beim Fallschirmzusammenlegen (im Hintergrund Anne und Stefanie) |
SONNABEND, 23. APRIL
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Gänseblümchen |
DONNERSTAG, 28. APRIL
Stehe im Konsum und werde von hinten angesprochen. Es ist Erik mit seiner Freundin Katharina, die beiden kaufen gerade für ein gemeinsames Abendessen ein, zu welchem sie mich ganz herzlich einladen. Während des Essens erzählt Erik eine lustig-traurige Geschichte, über die spätere Generationen... – aber das ist ein anderes Thema. Jedenfalls wurden Hamburger Freunden seiner Eltern Fahrräder gestohlen. Einen Tag später waren die Räder wieder da, beiliegend ein Entschuldigungsschreiben: es sei ein Notfall gewesen, man bitte um Entschuldigung für den Ärger und wolle sich bedanken mit Musical-Karten für die ganze Familie. Die ganze Familie freut sich über die Räder und die Karten, geht ins Musical, und während dieser Zeit wird ihr das Haus leergeräumt.
SONNABEND, 30. APRIL
Kaufe mir seit Ewigkeiten mal wieder eine CD: Ja, Panik, DMD KIU LIDT, dessen Titel ein Akronym ist für Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit.
Donnerstag, 14. April 2011
Kapitel 3
DIENSTAG, 1. MÄRZ
„Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht. Trau keinem, geh nicht mit Fremden und so weiter. Das hatten mir meine Eltern erzählt, das hatten mir meine Lehrer erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch…Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war.“ (Wolfgang Herrndorf, Tschick)
Zu Guttenberg „überraschend“ zurückgetreten. Mein erster (Günter-Grass)-Gedanke: Da wird sich die „überraschte“ Kanzlerin bestimmt freuen. Mein zweiter Gedanke: Sich für Politik zu intressieren bedeutet ja auch immer, sich für Krieg zu intressieren. Das meinte Schernikau, als er schrieb, er intressiere sich nicht für Politik, aber er mache sie.
Hübsch auch, am Abend mal wieder zu erleben, wie die Konservativen so ticken. Mit all der ihnen zur Verfügung stehenden Medienmacht und Rhetorikbrillanz verteidigten sie den nun Ex-Minister – aber nur bis zu dessen Rücktritt. Stimmt man heute Abend ein schüchternes: „Aber lieber als all die SPD- und Grünen-Banausen wäre mir ein Kanzler-Baron zu Guttenberg allemal“, da fragen sie einen, ob man was getrunken habe.
Das „Phänomen“ KTG ganz kurz: Sein „Ich bin besonders ehrfürchtig & ehrlich, mutig & moralisch, edel & elegant!“ ist, wie es sich für einen Adligen gehört, keine THESE, die widerlegt oder der widersprochen werden könnte, sondern ein AXIOM.
Zum Vergleich: Zweier Ästhetiken erster Satz.
(1) „Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein, zusammengedrängt zu Gruppen, ineinander verschlungen oder zu Fragmenten zersprengt, mit einem Torso, einem aufgestützten Arm, einer geborstnen Hüfte, einem verschorften Brocken ihre Gestalt andeutend, immer in den Gebärden des Kampfs, ausweichend, zurückschnellend, angreifend, sich deckend, hochgestreckt oder gekrümmt, hier und da ausgelöscht, doch noch mit einem freistehenden vorgestemmten Fuß, einem gedrehten Rücken, der Kontur einer Wade eingespannt in eine einzige gemeinsame Bewegung.“ (Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands)
(2) „Kunst lebt von den Fehlern der Welt.“ (Peter Hacks, Die Maßgaben der Kunst)
Peter Hacks, ein „kommunistischer Reaktionär“, tönte der Deutschlandfunk letzte Woche. Das ist, mit Verlaub, natürlich ein Oxymoron, so wie das Lob, ein „konservativer Revolutionär“ zu sein (einst auf Thomas Mann, später auf Thomas Bernhard gemünzt), eines ist – und wie hingegen ein „reaktionärer Stalinist“ zu sein, ein Pleonasmus wäre.
Es gibt Menschen, die glauben, weil sie gern schräg (also daneben) denken, seien sie besonders schlau.
MITTWOCH, 2. MÄRZ
„Das imposanteste Glied des deutschen Mannes ist der erhobene Zeigefinger.“ (Fritz J. Raddatz, Tagebücher 1982 – 2001, S. 759). Die Perlen sind, wie so oft bestätige ich V.s Eindruck gern, sehr rar gesät (sät man Perlen denn?), und dann sind’s auch meist schlüpfrige oder verschwitzte. Aber Perlen sind niemals schlüpfrig oder verschwitzt: Was sagt das über mich, der ich diesen vor Selbstverliebtheit und natürlich auch vor allen möglichen Flüssigkeiten triefenden Klatsch- und Tratschschinken von vorn bis hinten lese?
DONNERSTAG, 3. MÄRZ
Das ZEIT-Phänomen: je unerheblicher die Zeitung wird (und sie wird es mit jeder verstreichenden Woche), desto mehr Leser (Käufer) gewinnt sie (und mit diesem beschissenen BILD-Argument wirbt sie, die Zeitung, die mal einen Namen hatte (und die ich probeweise für vier Wochen aus meinem Briefkasten klauben darf), auch noch!). Vor allem die durchaus sehr schmierig-gönnerhafte, stets viel zu weit ausholende Helmut-Schmidt-Geste: Hört mal zu, ihr kleinen akademischen Hausfrauchen, jetzt erklär’ ich euch mal die Welt (selbstverständlich wird dann nicht die Welt erklärt (das ginge ja noch), stattdessen wird mit mal mehr, mal weniger gewundenen und sich windenden Phrasen geprotzt).
FREITAG, 4. MÄRZ
Binsenweisheit des Tages.
Es ist durchaus unanständig, sich durch das gesprochene Wort überzeugen lassen zu wollen statt, wie es sich gehörte, durch das geschriebene.
Schwarz-Weiß-Denken.
Alles, was man über den Scharlatan Enzensberger, den „Nurejew der Literatur“ (Raddatz), wissen muss: Früher, als ihn noch schwarzes Haar zierte (hatte er denn schwarze Haare?) war er links; heute, wo er weiße Haare hat, ist er rechts.
T. hat Karten für Dekadance besorgt. Die weltberühmte Band, sie spielt im weltberühmten F-Haus (F eine Abkürzung für FDGB – noch eine Abkürzungsebene mehr, und es herrschte Schweigen – endlich?), die Band jedenfalls setzt eher auf Stammtischvorurteilsreflexe (Homophobie und Hitlerparodie) im Publikum als auf das, was man von ihr (vor allem von Bernd (Bert?) Stephan und Olaf „Gaby“ Schubert) hätte erwarten dürfen. Oder anders: Postpolitikkabarettjazz („Veränderung, alles was wir wollen (brauchen) ist Veränderung“) statt guter Unterhaltung, wozu die Band ja fähig wäre. Mich langweilt das mehr, als dass es mich nervt, aber über den neoliberal-nationalsozialistischen Schmonz des „Ohne Arbeit früh und spät / wird dir nichts geraten. / Der Neid sieht nur das Blumenbeet, / aber nicht den Spaten“) rege ich mich dann doch ein bisschen auf. Sicher, das ist alles Ironie – wie die ewigen Hitleranspielungen und -grüße.
T. über die superdünnen Papers erstaunt, mit denen ich meine Zigaretten drehe. Ich: So ist Rauchen NOCH gesünder! Geraucht werden muss natürlich (natürlich?) draußen in der Kälte auf dem Balkon. Hieß DDR nicht auch: Du Darfst Rauchen?
SONNTAG, 6. MÄRZ
„Bodenhaltung ist schließlich auch eine Haltung!“ (Wiglaf Droste)
Und das ist es dann auch, was mir die Doppelzüngigkeit eines Herrn Raddatz zum Beispiel so doppelt verlogen erscheinen lässt: Der schmückte sich in seinem Tabu damit, nie und niemals für Springer gearbeitet zu haben (und arbeiten zu wollen) – aber für (unter) Schmidt arbeitete er!
Besuch bei den Großeltern. Großvater immer hinfälliger, Großmutter hingegen wie aufgeblüht. Als schöpfte sie aus der Ermattung ihres Mannes neue Lebensenergie. Bin hin- und hergerissen und würde am liebsten auf der Stelle das Weite suchen. Nicht nur, weil die Kinder „am Rad drehen“. Raune, weil ich mir nicht mehr weiter zu helfen weiß, in die Runde: Wem man schon jeden Wunsch erfüllt, den sollte man nicht auch noch verwöhnen.
Am Abend absolute Windstille draußen, also auch absolute Ruhe, wenn nicht durch ein angekipptes Fenster des Nachbarhauses Schluchzen zu vernehmen wäre...
MONTAG, 7. MÄRZ
Scharfes Spinatsüppchen am Abend. Schwatze mit M. über „Klassiker der Romantik“ (Zweitausendeins, Kleist), „konservative Revolutionäre“ (Carl Schmitt) und „aufgeklärte Esoteriker“ (einige seiner Bekannten). Zu mittlerem: Der Ausnahmezustand Carl Schmitts, sagt er, sei einer, der beim Übergang von einem zum anderen System entstehe. Ich darauf: Sooo habe ich Schmitt bislang nicht verstanden, sondern eher als seltsamen Dialektiker, der den Ausnahmezustand erlaubt, um die Ordnung zu erhalten (vgl. auch Schäubles Idee, die ich ins Spiel bringe, Flugzeuge mit mutmaßlichen Terroristen (die Schmitt noch Partisanen nannte) an Bord ohne rechtliche Grundlage abschießen zu dürfen, um die Grundlagen des Rechts(staats) zu erhalten.)
DIENSTAG, 8. MÄRZ
frauentag = kleinschreibetag.
ausnahme und regel.
zwei schmitt-zitate (mir selbst auf die schulter klopfend): „souverän ist, wer über den ausnahmezustand entscheidet.“ „die ausnahme ist interessanter als der normalfall. das normale beweist nichts, die ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die regel, die regel lebt überhaupt nur von der ausnahme.“ das erste zitat sagt klar, dass für schmitt der ausnahmezustand eben nicht das zwischendrin-chaos ist, welches m. gestern abend beschwor, sondern ordnungsgemäß vom souverän eingesetzt wird, um ein solches chaos (sprich den bürgerkrieg) zu verhindern. das zweite könnte eine erklärung dafür sein, dass hacks sich so wenig mit schmitt beschäftigte: weil hacks ja genau andersherum dachte, weil ihm die regel viel wichtiger war als die ausnahme (wobei wir mal wieder beim unterschied zwischen klassik (regel) und romantik (ausnahme) wären).
die tyrannei der werte.
ein drittes schmitt-zitat: „wer wert sagt, will geltend machen und durchsetzen. tugenden übt man aus; normen wendet man an; befehle werden vollzogen; aber werte werden gesetzt und durchgesetzt. wer ihre Geltung behauptet, muss sie geltend machen. wer sagt, dass sie gelten, ohne dass ein Mensch sie geltend macht, will betrügen.“
DONNERSTAG, 10. MÄRZ
Zu Guttenberg mit Großem Zapfenstreich verabschiedet worden im Fernsehn. Deshalb sein finstrer Blick, weil das GANZE nicht HALB so pompös und fackelschwanger wie die Reichsparteitagsparaden in Nürnberg? S.s Lob von vorhin: „Du wirst immer gleich politisch“ wäre in diesem Fall tatsächlich ein Tadel. Denn wenn Guttenberg etwas NICHT ist, dann ein Politiker.
FREITAG, 11. MÄRZ
Wulf Kirsten. Begegne dem kleinen, als konservativ empfohlenen und durchaus weit über die Grenzen der kleinen, als konservativ bekannten und durchaus weit über die Grenzen des Freistaats und des Landes bekannten Stadt geachteten Dichter nun täglich (alles klar?). Gestern bemerkte und beobachtete ich Kirtsten, im Auto sitzend und wartend, wie er, besonnenen Schrittes und umsichtig durch die dunklen Gläser seiner Brille schauend, die Paul-Schneider-Straße entlang lief und nachher die Mozartstraße überquerte. Sieht man ihn so, glaubt man, einen schüchternen, übervorsichtigen Mann vor sich zu haben. Nichts deutet hier draußen auf die überquellende Fabulierlaune hin, mit der er uns dank seines anekdotenreichen Gedächtnisses vor wenigen Wochen im Deutschlandfunk erfreute. Heute treffe ich ihn in der Bibliothek, begleitet von einem sehr jungen Adlatus (?) mit blonden, wirren Haaren, einer zu großen Brille und in schwarzen, engen Hängehosen.
Erst Erdbeben, dann Tsunami in Japan. Westerwelles Binse im Radio: „Wer die Japaner kennt, weiß, dass sie in Angst leben.“ Ja ja, allerdings nicht nur die Japaner leben in Angst, sondern alle Westler, Herr von und Zunami Westerwelle.
Jakob Augsteins mir aus der Seele sprechender Leitartikel im Freitag über der deutschen Volksseele Unbehagen an der Normalität, ihrer Traurigkeit über die Entzauberung der Welt, ihrer Sehnsucht nach Romantik. Ludwig Tieck (19. Jahrhundert) über die Klassiker: „Ich hasse die Menschen, die mit ihrer nachgemachten kleinen Sonne in jede trauliche Dämmerung hineinleuchten.“ Sebastian Haffner (20. Jahrhundert), nachdem Hitler an die Macht gekommen war: „Es war, man kann es nicht anders nennen, ein sehr verbreitetes Gefühl der Erlösung und Befreiung von der Demokratie.“ Jakob Augstein (21. Jahrhundert) über zu Guttenbergsche Beliebtheitsprozente (und, wenn man so will, auch über die Tränen, die beim gestrigen Zapfenstreich über so manches hübsche Gesicht kullerten): „Das ist also, um es zusammenzufassen, eine Art fröhlicher Faschismus, dem da gefröhnt wird.“
Tschick ausgeliehen – Wochenende gerettet.
Abend mit D. Aufgeweckt und durchaus bodenständig. Quatschen bis halb zwei über Liebe und Tod, das Tagebuchschreiben und andere Krankheiten, über Heike Makatsch und in keiner Sekunde über Japan.
SONNABEND, 12. MÄRZ
Holz gesägt und gespalten. Frühlingserwachen. „Japan droht atomare Katastrophe.“ (yahoo.de)
SONNTAG, 13. MÄRZ
Zitat des Tages.
„Wir sollten denen vergeben, die noch soviel Geist hatten, Menschen um hoher Ideale willen umzubringen.“
MONTAG, 14. MÄRZ
Über Idioten und Verbrecher.
In den Nachrichten faselt die Kanzlerin, die japanische Atomwolke auf dem Schirm, vom Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg. Plötzlich sind es nicht nur Vollidioten, die Woche für Woche gegen die „friedliche“ Nutzung der Atomkraft demonstrieren.
Der heutige Erkenntnisgewinn ist ein doppelter.
Zum einen ist es durchaus und dennoch ein wenig idiotisch, gegen Atomkraftwerke zu demonstrieren, denn damit versucht man ja, auf demokratische Weise in die Wirtschaft einzugreifen, wofür die bürgerliche Demokratie aber gar nicht gemacht worden ist, im Gegenteil. Wer also eine demokratisch legitimierte Wirtschaft will, sollte für ein anderes Wirtschaftssystem (sprich: Gesellschaftssystem) auf die Straße gehen.
Zum anderen kam heraus, dass das am Pazifikstrand gelegene Atomkraftwerk in Fukushima nur für Erdbeben der Stärke 8 ausgelegt worden war, obwohl bekannt war, dass Erdbeben in dieser Region durchaus mit einer Stärke von 9 (was der zehnfachen Heftigkeit im Vergleich zu einem Erdbeben der Stärke 8 entspricht) auftreten können (Tsunami in Folge des Erdbebens inklusive). Der Grund, warum auf eine entsprechende Dimensionierung des AKWs verzichtete wurde: Herstellung und Betreibung wären unwirtschaftlich geworden, sagt das Radio kommentarlos, was vielleicht auch besser so ist. Denn übersetzen kann sich diese Nachricht jeder selbst: In der schönen westlichen Welt (zu der seit einiger Zeit auch Deutschland und Japan dank ihrer emsigen Anstrengungen gehören) gilt als wirtschaftlich, Geräte zu bauen, die durch eine Naturkatastrophe (Fukushima), menschliches Versagen bzw. Sabotage (Tschernobyl) oder einen Terrorunfall (bislang noch nicht vorgekommen), in der Lage sind, alles kaputt machen zu können, Mensch und Natur.
Die beiden Erkenntnisse (und damit die ganze Anti-Atomkraft-Bewegung) auf eine Formel gebracht: Idioten demonstrieren gegen Verbrecher.
PS: Plötzlich sind auch nicht mehr alle Österreicher Verbrecher (tut mir leid, lieber Thomas Bernhard), denn Atomkraftwerke, immerhin, die gibt es nicht in Österreich, noch nicht mal in Kärnten, wo die Kacke, wie man weiß, besonders heiß am Dampfen ist.
DIENSTAG, 15. MÄRZ
In einem mitreißenden Radio-Champions-League-Heimspiel scheiden die Bayern gegen Inter Mailand und gegen alle Wahrscheinlichkeit aus (sie hatten das Hinspiel ja mit 1:0 gewonnen und führten, nach großartigem Spiel, zur Pause 2:1). Auf den Punkt gebracht: „Die Verscherbelung der Senderechte vieler Fußball-Highlights an Pay-TV-Anstalten hat einen Vorteil. Die vom Aussterben bedrohte Radioreportage erlebte eine kaum für möglich gehaltene Renaissance. Und wenn mit Edgar Endres und Karl-Heinz Kas zwei waschechte Bajuwaren die Schlußphase eines vermeintlich schon gewonnenen Spiels von Bayern München in der Champions League kommentieren, schmeckt das Hefeweizen gleich doppelt so gut. Selbst dann, wenn man diesen Schnöselklub zum Teufel wünscht. Doch schon der Ausgleich von Inter Mailand brachte ein zittriges Vibrato in den bislang brillierenden Tenor von Kas. Und als Goran Pandev den Bayern in der 88. Minute den Gnadenschuß verpaßte, folgte ein wie aus der Gruft geröcheltes »Da legst di nieda.« Radio ist einfach Klasse.“ (junge Welt, 17. März 2011)
MITTWOCH, 16. MÄRZ
Zur bundesdeutschen Politik, die Separatisten in Jugoslawien damals, 1991/92, anerkannt zu haben, Edmund Stoiber: „Kohl vollendet das, was Kaiser Wilhelm und Hitler nicht erreicht haben.“
Den zweiten Tag in Folge Nebel, warmer Nebel – oder handelt es sich um eine atomare Staubwolke? War ja schließlich Ostwind gestern.
DONNERSTAG, 17. MÄRZ
1945: Hiroshima – 2011: Fukushima. In der Zwischenzeit, die immerhin 66 Jahre währte, der durchaus gigantische Selbstbetrug, der atommoderne Mensch könne noch Herr seiner eigenen technischen Schöpfungen sein; trotz des warnenden Zeigefingers Günther Anders’, aber weder den Anders noch den Zeigefinger nahm man je ganz für voll.
Was sonst noch los ist auf der Welt: die Chinesen kaufen jodiertes Salz ihres mao-modernen Aberglaubens wegen (soll gegen Radioaktivität helfen) und Konterrevolutionen in Bahrain und Libyen.
Helmut Schmidt auf eine ZEIT-Frage (also im Grunde eine Frage von sich an sich), ob die Atomreaktorkatastrophe in Fukushima ohne Beispiel sei, sagt, sie sei tatsächlich nur vergleichbar mit den beiden Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, und dann noch mit den Bombardements auf Dresden und Hamburg, und mit dem Anschlag auf die Türme des World Trade Centers. Das sagt er und unterschlägt, dass er, Helmut Schmidt himself, in den 1940ern als adretter Offizier auf seinem Weg nach Leningrad ganz bestimmt an Auschwitz vorbeikam. Kann man ja mal vergessen. Oder wollte er, ohne es auszusprechen, sagen, dass Auschwitz keine beispiellose Flugzeug-, Bomben- oder Atomkatastrophe, sondern eine durchaus und damals übliche Eisenbahn-, Muffelöfen- und Giftgaskatastrophe war?
FREITAG, 18. MÄRZ
In der Bibliothek G., der auf meine Frage, wie es ihm gehe, sagt: schlecht. Er nehme Tabletten und habe 12 Kilo zugenommen (kann man aber nicht sehen; was man hingegen sehen kann, ist, dass er sichtbar ergraut ist). M. ruft an und erzählt, er sei gestern in Leipzig auf der Messe gewesen und sei Jutta Ditfurth begegnet, die aus ihrem neuen Buch über die (oder besser: gegen die) Grünen gelesen habe. Ob sie auch über ihre Beunruhigung räsonierte, dass die Grünen erstmals und ausgerechnet in Baden-Württemberg demnächst einen Ministerpräsidenten stellen könnten (laut Umfrage-Vorhersagen), das traue ich mich nicht zu fragen, bin ja schließlich in der Bibliothek. So oder so, ob nun weiter mit der CDU oder erstmals mit den Grünen: Armes, reiches Baden-Württemberg.
SONNABEND, 19. MÄRZ
Ankunft in L. gegen zwölf nach kleiner Sightseeing-Autofahrt durch die schöne Innenstadt. Auch prima, dass die Aurora-Taschenbücher mit Hacks-Stücken zu den schönsten Büchern des Jahres und des Landes gehören, und dass ich sein Konterfei auf einer Sgt.-Pepper-Postkarte finde. Was ich vermisse, sind einige der mir lieben kleinen Verlage: Friedenauer Presse, Blumenbar etc. Kaffeetrinken mit Sa. und A., der mit seinen großen Söhnen vor Ort ist (und mich anklingelt).
Kleines Fazit: Es handelt sich um eine Buchmesse, nicht um eine Literaturmesse, was ja das genaue Gegenteil einer Buchmesse wäre. Am Ende des Tages wird mir das Naheliegende endlich klar, und alles, was ich eben erlebte, wird erklärlich. Weil es eine Buch- und keine Literaturmesse ist, muss man die ganzen verkleideten Kinder ertragen, die das wahre Wesen der Veranstaltung ans Licht des Tages bringen, weil es eine Buch- und keine Literaturmesse ist, wird im Radio ein Ansturm auf die „Lesung“ von Veronica Ferres befürchtet, und für Wondratschek, Meinecke, Holbein und Co. intressiert sich kein Mensch, weil es eine Buch- und keine Literaturmesse ist, hat nicht Wolfgang Herrndorf, wie es sich gehört hätte, den Preis der Messe erhalten, sondern der Schnösel Clemens J. Setz. Herrndorf, schwer, wenn nicht unheilbar krank, hätte man nicht herumreichen, also verMARKTen können: „15.1. 17:36 / Gerade werden die Filmrechte verhandelt. Und das ist vielleicht der Punkt, wo ich dann doch so eine Art von Ressentiment empfinde: 25 Jahre am Existenzminimum rumgekrebst und gehofft, einmal eine 2-Zimmer-Wohnung mit Ausblick zu haben. Jetzt könnte ich sechsstellige Summen verdienen, und es gibt nichts, was mir egaler wäre.“ (Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur, Internet-Blog)
Abendessen mit Sa. in einer Dönerkaschemme in der Karl-Heine-Straße (wer war Karl Heine?) Höhepunkt des Abends: Konzert in der Schaubühne Lindenfels. Droste liest und seine Adoptiveltern begleiten ihn aufs Angenehmste, die biedere Brüning und der redelustige Gehstock-Petrowsky. Droste heute nicht nur mit auf Dauer enervierender Sprachkritik (Geld und Gelder) und hin und wieder durchaus platten Zoten (Habt ihr keine Vase?), sondern auch mit ebenso hübscher wie verdienter Häme gegen die Grünen, die Grünenwähler, Grass und die Grass-Leser, und sehr schön vor allem das Scrabble-Wortgefecht mit seiner Mutter (der leiblichen).
SONNTAG, 20. MÄRZ
Wie stellt man mit einer Uhr fest, wo Norden ist? Den Stundenzeiger Richtung Sonne halten: der halbe Winkel zur 12 zeigt nach Süden. Gefunden in Tschick. Wie geht es Herrndorf?
Gretchenfrage des Tages.
Gegen oder für den Krieg gegen Libyen? Wenn man hört, wie vehement sowohl die Grünen als auch die SPD die Kriegsbeteiligung Deutschlands herbeizuschreien versuchen, muss man einfach dagegen sein. Nicht dass Merkel und Westerwelle plötzlich zu Pazifisten geworden sind, es sind wohl die anstehenden Landtagswahlen der Grund für die Enthaltung.
MONTAG, 21. MÄRZ
Beim Bäcker Kaffee und zwei Zeitungen. In beiden Fotos von S. (in der TA allein vorm Klavier sitzend und spielend, in der TLZ ein Gruppenfoto). Eine der Zeitungen erklärt kurz und knapp, dass ALGII aus Steuer„mitteln“ bezahlt werde, und der Leser soll sich wohl fragen, ob es nicht besser wäre, diese Steuer„mittel“ ausschließlich zum Retten von Banken und zum Führen von Kriegen zu verwenden statt sie an Menschen zu verschwenden.
Kleines Contra Herrndorf.
Ein wenig nachdenklich macht mich schon (bei aller Begeisterung), dass Herrndorf seine Helden sowohl in In Plüschgewittern als auch in Tschick heterosexuell versagen lässt, was durchaus nicht unsympathisch wäre, wenn er sie nicht auch unter einer nicht nur latenten Homophobie leiden ließe...
DIENSTAG, 22. MÄRZ
Binsenweisheit des Tages.
Auch wenn man von Altersarmut verschont bleiben sollte – Altersanmut darf mit Sicherheit nicht zu erwarten sein.
Binsenweisheit des Tages II.
In der Demokratie setzt sich, wie jeder weiß, stets das Mittelmaß durch. Das Bessere und das Schlechtere werden links (jenes) bzw. rechts (dieses) liegengelassen.
Großes Pro Herrndorf Oder Schüchterner Wiedergutmachungsversuch.
„Tschick war mit dem Kopf auf das Armaturenbrett gesunken. Ich legte eine Hand in seinen Nacken, und dann saßen wir da und hörten ’Ballade pour Adeline’, und ich dachte einen Moment darüber nach, auch schwul zu werden. Das wäre jetzt wirklich die Lösung aller Probleme gewesen, aber ich schaffte es nicht.“ (Wolfgang Herrndorf, Tschick, S. 214)
Mit anderen Worten: Tschick ausgelesen – Leben gerettet! Wenigstens und vorläufig das eigene.
Fernsehn am Abend. Neues aus der Anstalt, Urban Priol: „Planung ist (nur) der Ersatz des Zufalls durch den Irrtum.“ Neues aus der Talkshow-Anstalt. Werner Schneyder: „Wachstumsideologie ist eine Geisteskrankheit.“
DONNERSTAG, 24. MÄRZ
Japan explodiert weiter und exportiert weiter Strahlen in die Welt; Krieg gegen Libyen; Brüderle sagt die Wahrheit und nimmt die Sündenbockbürde von der Kanzlerin (wie im letzten Jahr Westerwelle). Oder genauer: Es wird ihm nahegelegt, die Bürde auf seinen Brüderle-Schultern zu schultern. Schlaue Merkel!
Fragen des Tages.
Lieber ZEIT-Schriftsteller Adolf Muschg, wie Sie allerbestens und allererstens wissen, ist das Wort Super-GAU Quatsch. Warum verschonen Sie uns dann nicht mit ihm? Und wieso heißen Sie immer noch Adolf???
SONNABEND, 26. MÄRZ
Um zehn S. abgeholt. Nach dem Mittagessen zum Pferd. Die Kleine die ganze Fahrt über ganz aufgekratzt. Ich zu ihr mit Jens Friebes Worten: „Du freust dich ja gar nicht“. Da lacht sie natürlich und fragt mich so was Ähnliches wie das Folgende: „Papa, kann es auch passieren, dass nicht nur, wie schon mal vorgekommen, Hochhäuser den Flugzeugen beim Fliegen im Wege stehen, sondern auch Atomkraftwerke?“ Da schmunzle nun ich, und ich denke: Eigentlich lustig, dass jeder weiß, dass man damit rechnen muss und es trotzdem AKWs gibt in unserm Land. Auch nicht schön das eisekalte Regenwetter. Also nur Abäppeln (auf) der Koppel und Striegeln des Pferdeponys Alissa
Fußballspiel im Fernsehn. Deutschland 4:0 gegen Kasachstan (Sy. wusste vorhin auch nicht, warum Kasachstan Mitglied der UEFA ist).
SONNTAG, 27. MÄRZ
Baden-Württemberg-Wahl. Zeige meine Ehrerbietung vor den Südwestlern, indem ich mich ganz häuslich gebe: Holz gestapelt, Mittagessen gegessen, Wäsche gewaschen, Fenster geputzt, das Haus gewischt und die Duschkabine gesäubert. Und dann das: es droht ein grüner Ministerpräsident im Ländle. Erst GAU in Fukushima, nun in Stuttgart. Die Gesichter der Schwarz-Gelben verfärben sich zusehends grün-rot. Und noch viel mehr und noch viel blödere Politikfarbenmetaphern im Kopp.
Binsenweisheit des Tages.
Merkel und Westerwelle werden umdenken müssen? Umdenken geht doch nur, wenn man sein Denkvermögen nicht eingetauscht hat gegen Macht (oder Geld oder was auch immer).
DIENSTAG, 29. MÄRZ
Rundreise mit der Bahn (eigentlich: mit dem Zug und auf der Bahn) durch Mittel- und Süddeutschland. Besserverdienergattinnen (besser: Besserverdienernutten) auf dem Bahnsteig; Paradies im Morgenfrost; das Saaletal bergauf, vorbei an Randtannen und dem unheimlichen Örtchen namens Gabe Gottes; als es wieder bergab geht in den Tälern zwischen den Hügeln südlich Nürnbergs die unvermeidlichen Kirchturmminarette: Wolkenkratzer der Provinz, in die sich selten ein Flugzeug verirrt; die Hochebene westlich Augsburgs durchquert; jeden Moment scheint, im dunstigen Frühlingssonnenschein, der große Fluss überzuschwappern über die Gleise und die Hauptsitze der weltmarktführenden Familienunternehmen, auf die hier jedes reiche Kuhdorf stolz sein darf dank der noch viel reicheren – äh, zahlreicheren – afrikanischen Großstadtslumfamilien: übelkeitserregende Anmut – beidseitig ausschlagender Kulturschock; geradezu demütig das (Durch)hängen des Ulmer Hauptbahnhofsvordachs ... Im EuroCity, der die furchtbar berühmten Eurocitys Klagenfurt und Siegen verbindet: Seichte Klagen bis wir endlich siegen und noch mehr bescheuerte Gedanken; Geislingen an der Steige umrundet, die Gleise dem Berg folgend, (noch) keine geradlinig durchpfeilenden Hochgeschwindigkeitsstreckenbrückenmonster wie im Thüringer Wald (Großbreitenbach); Untertürkheims Benz-Fabrik, Untertürkheims Benz-Museum, Untertürkheims Benz-Arena: Architekturperlen ohne Platz zum Atmen; Stuttgart-21, der im Abteil telefonierende Business-Idiot steigt aus, verabschiedet sich höflich-idiotisch, Obstbäume blühen rosa auf dem Weg (der Bahn) nach Heidelberg; Aufenthalt in Frankfurt: Vor dem Hauptbahnhof großkriminelle Bankspekulanten und nicht wenige weniger gut organisierte kleinkriminelle Terroristen, ein paar Altstoffsammler und viel mehr Männer auf der Suche nach anders gearteter Befriedigung, höfliche Asylerhoffer und rücksichtslose Behinderte, zwei DB-Sicherheitsangestellte im schwärmerischen Plausch über den verloren gegangenen Vorsprung der Stasisicherheitskraft: und zum ersten Mal fällt mir auf, dass Frankfurt die einzige Großstadt des Landes ist, der einzige Melting-Point-Schmelztiegel! In der Mobil-Zeitung der Bahn ein schüchterner Hinweis auf Jan Weiles Bahnhof-Altenbeken-Remineszenz (Die wildwestfählische Pause, faz.net) und ein Foto des konjunkturprogramm-rundumsanierten und umwelteffizient-energieverbraucheinsparenden Dessauer Hauptbahnhof-Schmuckstücks, alles ganz prima, aber nicht ein einziger Mensch ist zu sehen auf dem Foto. In ernüchterter Stimmung finde ich, zwischen Fulda und Gotha, in Herrndorfs Kurzgeschichte Der Weg des Soldaten (in: Diesseits des Van-Allen-Gürtels) diesen lebensklugen Satz über die Verlorenheit der Nürnberger Kunststudentinnen: „Viele kamen von Waldorfschulen und lasen Faschistenliteratur.“ (ebd., S. 9)
„Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht. Trau keinem, geh nicht mit Fremden und so weiter. Das hatten mir meine Eltern erzählt, das hatten mir meine Lehrer erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch…Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war.“ (Wolfgang Herrndorf, Tschick)
Zu Guttenberg „überraschend“ zurückgetreten. Mein erster (Günter-Grass)-Gedanke: Da wird sich die „überraschte“ Kanzlerin bestimmt freuen. Mein zweiter Gedanke: Sich für Politik zu intressieren bedeutet ja auch immer, sich für Krieg zu intressieren. Das meinte Schernikau, als er schrieb, er intressiere sich nicht für Politik, aber er mache sie.
Hübsch auch, am Abend mal wieder zu erleben, wie die Konservativen so ticken. Mit all der ihnen zur Verfügung stehenden Medienmacht und Rhetorikbrillanz verteidigten sie den nun Ex-Minister – aber nur bis zu dessen Rücktritt. Stimmt man heute Abend ein schüchternes: „Aber lieber als all die SPD- und Grünen-Banausen wäre mir ein Kanzler-Baron zu Guttenberg allemal“, da fragen sie einen, ob man was getrunken habe.
Das „Phänomen“ KTG ganz kurz: Sein „Ich bin besonders ehrfürchtig & ehrlich, mutig & moralisch, edel & elegant!“ ist, wie es sich für einen Adligen gehört, keine THESE, die widerlegt oder der widersprochen werden könnte, sondern ein AXIOM.
Zum Vergleich: Zweier Ästhetiken erster Satz.
(1) „Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein, zusammengedrängt zu Gruppen, ineinander verschlungen oder zu Fragmenten zersprengt, mit einem Torso, einem aufgestützten Arm, einer geborstnen Hüfte, einem verschorften Brocken ihre Gestalt andeutend, immer in den Gebärden des Kampfs, ausweichend, zurückschnellend, angreifend, sich deckend, hochgestreckt oder gekrümmt, hier und da ausgelöscht, doch noch mit einem freistehenden vorgestemmten Fuß, einem gedrehten Rücken, der Kontur einer Wade eingespannt in eine einzige gemeinsame Bewegung.“ (Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands)
(2) „Kunst lebt von den Fehlern der Welt.“ (Peter Hacks, Die Maßgaben der Kunst)
Peter Hacks, ein „kommunistischer Reaktionär“, tönte der Deutschlandfunk letzte Woche. Das ist, mit Verlaub, natürlich ein Oxymoron, so wie das Lob, ein „konservativer Revolutionär“ zu sein (einst auf Thomas Mann, später auf Thomas Bernhard gemünzt), eines ist – und wie hingegen ein „reaktionärer Stalinist“ zu sein, ein Pleonasmus wäre.
Es gibt Menschen, die glauben, weil sie gern schräg (also daneben) denken, seien sie besonders schlau.
MITTWOCH, 2. MÄRZ
„Das imposanteste Glied des deutschen Mannes ist der erhobene Zeigefinger.“ (Fritz J. Raddatz, Tagebücher 1982 – 2001, S. 759). Die Perlen sind, wie so oft bestätige ich V.s Eindruck gern, sehr rar gesät (sät man Perlen denn?), und dann sind’s auch meist schlüpfrige oder verschwitzte. Aber Perlen sind niemals schlüpfrig oder verschwitzt: Was sagt das über mich, der ich diesen vor Selbstverliebtheit und natürlich auch vor allen möglichen Flüssigkeiten triefenden Klatsch- und Tratschschinken von vorn bis hinten lese?
DONNERSTAG, 3. MÄRZ
Das ZEIT-Phänomen: je unerheblicher die Zeitung wird (und sie wird es mit jeder verstreichenden Woche), desto mehr Leser (Käufer) gewinnt sie (und mit diesem beschissenen BILD-Argument wirbt sie, die Zeitung, die mal einen Namen hatte (und die ich probeweise für vier Wochen aus meinem Briefkasten klauben darf), auch noch!). Vor allem die durchaus sehr schmierig-gönnerhafte, stets viel zu weit ausholende Helmut-Schmidt-Geste: Hört mal zu, ihr kleinen akademischen Hausfrauchen, jetzt erklär’ ich euch mal die Welt (selbstverständlich wird dann nicht die Welt erklärt (das ginge ja noch), stattdessen wird mit mal mehr, mal weniger gewundenen und sich windenden Phrasen geprotzt).
FREITAG, 4. MÄRZ
Binsenweisheit des Tages.
Es ist durchaus unanständig, sich durch das gesprochene Wort überzeugen lassen zu wollen statt, wie es sich gehörte, durch das geschriebene.
Schwarz-Weiß-Denken.
Alles, was man über den Scharlatan Enzensberger, den „Nurejew der Literatur“ (Raddatz), wissen muss: Früher, als ihn noch schwarzes Haar zierte (hatte er denn schwarze Haare?) war er links; heute, wo er weiße Haare hat, ist er rechts.
T. hat Karten für Dekadance besorgt. Die weltberühmte Band, sie spielt im weltberühmten F-Haus (F eine Abkürzung für FDGB – noch eine Abkürzungsebene mehr, und es herrschte Schweigen – endlich?), die Band jedenfalls setzt eher auf Stammtischvorurteilsreflexe (Homophobie und Hitlerparodie) im Publikum als auf das, was man von ihr (vor allem von Bernd (Bert?) Stephan und Olaf „Gaby“ Schubert) hätte erwarten dürfen. Oder anders: Postpolitikkabarettjazz („Veränderung, alles was wir wollen (brauchen) ist Veränderung“) statt guter Unterhaltung, wozu die Band ja fähig wäre. Mich langweilt das mehr, als dass es mich nervt, aber über den neoliberal-nationalsozialistischen Schmonz des „Ohne Arbeit früh und spät / wird dir nichts geraten. / Der Neid sieht nur das Blumenbeet, / aber nicht den Spaten“) rege ich mich dann doch ein bisschen auf. Sicher, das ist alles Ironie – wie die ewigen Hitleranspielungen und -grüße.
T. über die superdünnen Papers erstaunt, mit denen ich meine Zigaretten drehe. Ich: So ist Rauchen NOCH gesünder! Geraucht werden muss natürlich (natürlich?) draußen in der Kälte auf dem Balkon. Hieß DDR nicht auch: Du Darfst Rauchen?
SONNTAG, 6. MÄRZ
„Bodenhaltung ist schließlich auch eine Haltung!“ (Wiglaf Droste)
Und das ist es dann auch, was mir die Doppelzüngigkeit eines Herrn Raddatz zum Beispiel so doppelt verlogen erscheinen lässt: Der schmückte sich in seinem Tabu damit, nie und niemals für Springer gearbeitet zu haben (und arbeiten zu wollen) – aber für (unter) Schmidt arbeitete er!
Besuch bei den Großeltern. Großvater immer hinfälliger, Großmutter hingegen wie aufgeblüht. Als schöpfte sie aus der Ermattung ihres Mannes neue Lebensenergie. Bin hin- und hergerissen und würde am liebsten auf der Stelle das Weite suchen. Nicht nur, weil die Kinder „am Rad drehen“. Raune, weil ich mir nicht mehr weiter zu helfen weiß, in die Runde: Wem man schon jeden Wunsch erfüllt, den sollte man nicht auch noch verwöhnen.
Am Abend absolute Windstille draußen, also auch absolute Ruhe, wenn nicht durch ein angekipptes Fenster des Nachbarhauses Schluchzen zu vernehmen wäre...
MONTAG, 7. MÄRZ
Scharfes Spinatsüppchen am Abend. Schwatze mit M. über „Klassiker der Romantik“ (Zweitausendeins, Kleist), „konservative Revolutionäre“ (Carl Schmitt) und „aufgeklärte Esoteriker“ (einige seiner Bekannten). Zu mittlerem: Der Ausnahmezustand Carl Schmitts, sagt er, sei einer, der beim Übergang von einem zum anderen System entstehe. Ich darauf: Sooo habe ich Schmitt bislang nicht verstanden, sondern eher als seltsamen Dialektiker, der den Ausnahmezustand erlaubt, um die Ordnung zu erhalten (vgl. auch Schäubles Idee, die ich ins Spiel bringe, Flugzeuge mit mutmaßlichen Terroristen (die Schmitt noch Partisanen nannte) an Bord ohne rechtliche Grundlage abschießen zu dürfen, um die Grundlagen des Rechts(staats) zu erhalten.)
DIENSTAG, 8. MÄRZ
frauentag = kleinschreibetag.
ausnahme und regel.
zwei schmitt-zitate (mir selbst auf die schulter klopfend): „souverän ist, wer über den ausnahmezustand entscheidet.“ „die ausnahme ist interessanter als der normalfall. das normale beweist nichts, die ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die regel, die regel lebt überhaupt nur von der ausnahme.“ das erste zitat sagt klar, dass für schmitt der ausnahmezustand eben nicht das zwischendrin-chaos ist, welches m. gestern abend beschwor, sondern ordnungsgemäß vom souverän eingesetzt wird, um ein solches chaos (sprich den bürgerkrieg) zu verhindern. das zweite könnte eine erklärung dafür sein, dass hacks sich so wenig mit schmitt beschäftigte: weil hacks ja genau andersherum dachte, weil ihm die regel viel wichtiger war als die ausnahme (wobei wir mal wieder beim unterschied zwischen klassik (regel) und romantik (ausnahme) wären).
die tyrannei der werte.
ein drittes schmitt-zitat: „wer wert sagt, will geltend machen und durchsetzen. tugenden übt man aus; normen wendet man an; befehle werden vollzogen; aber werte werden gesetzt und durchgesetzt. wer ihre Geltung behauptet, muss sie geltend machen. wer sagt, dass sie gelten, ohne dass ein Mensch sie geltend macht, will betrügen.“
DONNERSTAG, 10. MÄRZ
Zu Guttenberg mit Großem Zapfenstreich verabschiedet worden im Fernsehn. Deshalb sein finstrer Blick, weil das GANZE nicht HALB so pompös und fackelschwanger wie die Reichsparteitagsparaden in Nürnberg? S.s Lob von vorhin: „Du wirst immer gleich politisch“ wäre in diesem Fall tatsächlich ein Tadel. Denn wenn Guttenberg etwas NICHT ist, dann ein Politiker.
FREITAG, 11. MÄRZ
Wulf Kirsten. Begegne dem kleinen, als konservativ empfohlenen und durchaus weit über die Grenzen der kleinen, als konservativ bekannten und durchaus weit über die Grenzen des Freistaats und des Landes bekannten Stadt geachteten Dichter nun täglich (alles klar?). Gestern bemerkte und beobachtete ich Kirtsten, im Auto sitzend und wartend, wie er, besonnenen Schrittes und umsichtig durch die dunklen Gläser seiner Brille schauend, die Paul-Schneider-Straße entlang lief und nachher die Mozartstraße überquerte. Sieht man ihn so, glaubt man, einen schüchternen, übervorsichtigen Mann vor sich zu haben. Nichts deutet hier draußen auf die überquellende Fabulierlaune hin, mit der er uns dank seines anekdotenreichen Gedächtnisses vor wenigen Wochen im Deutschlandfunk erfreute. Heute treffe ich ihn in der Bibliothek, begleitet von einem sehr jungen Adlatus (?) mit blonden, wirren Haaren, einer zu großen Brille und in schwarzen, engen Hängehosen.
Erst Erdbeben, dann Tsunami in Japan. Westerwelles Binse im Radio: „Wer die Japaner kennt, weiß, dass sie in Angst leben.“ Ja ja, allerdings nicht nur die Japaner leben in Angst, sondern alle Westler, Herr von und Zunami Westerwelle.
Jakob Augsteins mir aus der Seele sprechender Leitartikel im Freitag über der deutschen Volksseele Unbehagen an der Normalität, ihrer Traurigkeit über die Entzauberung der Welt, ihrer Sehnsucht nach Romantik. Ludwig Tieck (19. Jahrhundert) über die Klassiker: „Ich hasse die Menschen, die mit ihrer nachgemachten kleinen Sonne in jede trauliche Dämmerung hineinleuchten.“ Sebastian Haffner (20. Jahrhundert), nachdem Hitler an die Macht gekommen war: „Es war, man kann es nicht anders nennen, ein sehr verbreitetes Gefühl der Erlösung und Befreiung von der Demokratie.“ Jakob Augstein (21. Jahrhundert) über zu Guttenbergsche Beliebtheitsprozente (und, wenn man so will, auch über die Tränen, die beim gestrigen Zapfenstreich über so manches hübsche Gesicht kullerten): „Das ist also, um es zusammenzufassen, eine Art fröhlicher Faschismus, dem da gefröhnt wird.“
Tschick ausgeliehen – Wochenende gerettet.
Abend mit D. Aufgeweckt und durchaus bodenständig. Quatschen bis halb zwei über Liebe und Tod, das Tagebuchschreiben und andere Krankheiten, über Heike Makatsch und in keiner Sekunde über Japan.
SONNABEND, 12. MÄRZ
Holz gesägt und gespalten. Frühlingserwachen. „Japan droht atomare Katastrophe.“ (yahoo.de)
SONNTAG, 13. MÄRZ
Zitat des Tages.
„Wir sollten denen vergeben, die noch soviel Geist hatten, Menschen um hoher Ideale willen umzubringen.“
MONTAG, 14. MÄRZ
Über Idioten und Verbrecher.
In den Nachrichten faselt die Kanzlerin, die japanische Atomwolke auf dem Schirm, vom Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg. Plötzlich sind es nicht nur Vollidioten, die Woche für Woche gegen die „friedliche“ Nutzung der Atomkraft demonstrieren.
Der heutige Erkenntnisgewinn ist ein doppelter.
Zum einen ist es durchaus und dennoch ein wenig idiotisch, gegen Atomkraftwerke zu demonstrieren, denn damit versucht man ja, auf demokratische Weise in die Wirtschaft einzugreifen, wofür die bürgerliche Demokratie aber gar nicht gemacht worden ist, im Gegenteil. Wer also eine demokratisch legitimierte Wirtschaft will, sollte für ein anderes Wirtschaftssystem (sprich: Gesellschaftssystem) auf die Straße gehen.
Zum anderen kam heraus, dass das am Pazifikstrand gelegene Atomkraftwerk in Fukushima nur für Erdbeben der Stärke 8 ausgelegt worden war, obwohl bekannt war, dass Erdbeben in dieser Region durchaus mit einer Stärke von 9 (was der zehnfachen Heftigkeit im Vergleich zu einem Erdbeben der Stärke 8 entspricht) auftreten können (Tsunami in Folge des Erdbebens inklusive). Der Grund, warum auf eine entsprechende Dimensionierung des AKWs verzichtete wurde: Herstellung und Betreibung wären unwirtschaftlich geworden, sagt das Radio kommentarlos, was vielleicht auch besser so ist. Denn übersetzen kann sich diese Nachricht jeder selbst: In der schönen westlichen Welt (zu der seit einiger Zeit auch Deutschland und Japan dank ihrer emsigen Anstrengungen gehören) gilt als wirtschaftlich, Geräte zu bauen, die durch eine Naturkatastrophe (Fukushima), menschliches Versagen bzw. Sabotage (Tschernobyl) oder einen Terrorunfall (bislang noch nicht vorgekommen), in der Lage sind, alles kaputt machen zu können, Mensch und Natur.
Die beiden Erkenntnisse (und damit die ganze Anti-Atomkraft-Bewegung) auf eine Formel gebracht: Idioten demonstrieren gegen Verbrecher.
PS: Plötzlich sind auch nicht mehr alle Österreicher Verbrecher (tut mir leid, lieber Thomas Bernhard), denn Atomkraftwerke, immerhin, die gibt es nicht in Österreich, noch nicht mal in Kärnten, wo die Kacke, wie man weiß, besonders heiß am Dampfen ist.
DIENSTAG, 15. MÄRZ
In einem mitreißenden Radio-Champions-League-Heimspiel scheiden die Bayern gegen Inter Mailand und gegen alle Wahrscheinlichkeit aus (sie hatten das Hinspiel ja mit 1:0 gewonnen und führten, nach großartigem Spiel, zur Pause 2:1). Auf den Punkt gebracht: „Die Verscherbelung der Senderechte vieler Fußball-Highlights an Pay-TV-Anstalten hat einen Vorteil. Die vom Aussterben bedrohte Radioreportage erlebte eine kaum für möglich gehaltene Renaissance. Und wenn mit Edgar Endres und Karl-Heinz Kas zwei waschechte Bajuwaren die Schlußphase eines vermeintlich schon gewonnenen Spiels von Bayern München in der Champions League kommentieren, schmeckt das Hefeweizen gleich doppelt so gut. Selbst dann, wenn man diesen Schnöselklub zum Teufel wünscht. Doch schon der Ausgleich von Inter Mailand brachte ein zittriges Vibrato in den bislang brillierenden Tenor von Kas. Und als Goran Pandev den Bayern in der 88. Minute den Gnadenschuß verpaßte, folgte ein wie aus der Gruft geröcheltes »Da legst di nieda.« Radio ist einfach Klasse.“ (junge Welt, 17. März 2011)
MITTWOCH, 16. MÄRZ
Zur bundesdeutschen Politik, die Separatisten in Jugoslawien damals, 1991/92, anerkannt zu haben, Edmund Stoiber: „Kohl vollendet das, was Kaiser Wilhelm und Hitler nicht erreicht haben.“
Den zweiten Tag in Folge Nebel, warmer Nebel – oder handelt es sich um eine atomare Staubwolke? War ja schließlich Ostwind gestern.
DONNERSTAG, 17. MÄRZ
1945: Hiroshima – 2011: Fukushima. In der Zwischenzeit, die immerhin 66 Jahre währte, der durchaus gigantische Selbstbetrug, der atommoderne Mensch könne noch Herr seiner eigenen technischen Schöpfungen sein; trotz des warnenden Zeigefingers Günther Anders’, aber weder den Anders noch den Zeigefinger nahm man je ganz für voll.
Was sonst noch los ist auf der Welt: die Chinesen kaufen jodiertes Salz ihres mao-modernen Aberglaubens wegen (soll gegen Radioaktivität helfen) und Konterrevolutionen in Bahrain und Libyen.
Helmut Schmidt auf eine ZEIT-Frage (also im Grunde eine Frage von sich an sich), ob die Atomreaktorkatastrophe in Fukushima ohne Beispiel sei, sagt, sie sei tatsächlich nur vergleichbar mit den beiden Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, und dann noch mit den Bombardements auf Dresden und Hamburg, und mit dem Anschlag auf die Türme des World Trade Centers. Das sagt er und unterschlägt, dass er, Helmut Schmidt himself, in den 1940ern als adretter Offizier auf seinem Weg nach Leningrad ganz bestimmt an Auschwitz vorbeikam. Kann man ja mal vergessen. Oder wollte er, ohne es auszusprechen, sagen, dass Auschwitz keine beispiellose Flugzeug-, Bomben- oder Atomkatastrophe, sondern eine durchaus und damals übliche Eisenbahn-, Muffelöfen- und Giftgaskatastrophe war?
FREITAG, 18. MÄRZ
In der Bibliothek G., der auf meine Frage, wie es ihm gehe, sagt: schlecht. Er nehme Tabletten und habe 12 Kilo zugenommen (kann man aber nicht sehen; was man hingegen sehen kann, ist, dass er sichtbar ergraut ist). M. ruft an und erzählt, er sei gestern in Leipzig auf der Messe gewesen und sei Jutta Ditfurth begegnet, die aus ihrem neuen Buch über die (oder besser: gegen die) Grünen gelesen habe. Ob sie auch über ihre Beunruhigung räsonierte, dass die Grünen erstmals und ausgerechnet in Baden-Württemberg demnächst einen Ministerpräsidenten stellen könnten (laut Umfrage-Vorhersagen), das traue ich mich nicht zu fragen, bin ja schließlich in der Bibliothek. So oder so, ob nun weiter mit der CDU oder erstmals mit den Grünen: Armes, reiches Baden-Württemberg.
SONNABEND, 19. MÄRZ
Ankunft in L. gegen zwölf nach kleiner Sightseeing-Autofahrt durch die schöne Innenstadt. Auch prima, dass die Aurora-Taschenbücher mit Hacks-Stücken zu den schönsten Büchern des Jahres und des Landes gehören, und dass ich sein Konterfei auf einer Sgt.-Pepper-Postkarte finde. Was ich vermisse, sind einige der mir lieben kleinen Verlage: Friedenauer Presse, Blumenbar etc. Kaffeetrinken mit Sa. und A., der mit seinen großen Söhnen vor Ort ist (und mich anklingelt).
Kleines Fazit: Es handelt sich um eine Buchmesse, nicht um eine Literaturmesse, was ja das genaue Gegenteil einer Buchmesse wäre. Am Ende des Tages wird mir das Naheliegende endlich klar, und alles, was ich eben erlebte, wird erklärlich. Weil es eine Buch- und keine Literaturmesse ist, muss man die ganzen verkleideten Kinder ertragen, die das wahre Wesen der Veranstaltung ans Licht des Tages bringen, weil es eine Buch- und keine Literaturmesse ist, wird im Radio ein Ansturm auf die „Lesung“ von Veronica Ferres befürchtet, und für Wondratschek, Meinecke, Holbein und Co. intressiert sich kein Mensch, weil es eine Buch- und keine Literaturmesse ist, hat nicht Wolfgang Herrndorf, wie es sich gehört hätte, den Preis der Messe erhalten, sondern der Schnösel Clemens J. Setz. Herrndorf, schwer, wenn nicht unheilbar krank, hätte man nicht herumreichen, also verMARKTen können: „15.1. 17:36 / Gerade werden die Filmrechte verhandelt. Und das ist vielleicht der Punkt, wo ich dann doch so eine Art von Ressentiment empfinde: 25 Jahre am Existenzminimum rumgekrebst und gehofft, einmal eine 2-Zimmer-Wohnung mit Ausblick zu haben. Jetzt könnte ich sechsstellige Summen verdienen, und es gibt nichts, was mir egaler wäre.“ (Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur, Internet-Blog)
Abendessen mit Sa. in einer Dönerkaschemme in der Karl-Heine-Straße (wer war Karl Heine?) Höhepunkt des Abends: Konzert in der Schaubühne Lindenfels. Droste liest und seine Adoptiveltern begleiten ihn aufs Angenehmste, die biedere Brüning und der redelustige Gehstock-Petrowsky. Droste heute nicht nur mit auf Dauer enervierender Sprachkritik (Geld und Gelder) und hin und wieder durchaus platten Zoten (Habt ihr keine Vase?), sondern auch mit ebenso hübscher wie verdienter Häme gegen die Grünen, die Grünenwähler, Grass und die Grass-Leser, und sehr schön vor allem das Scrabble-Wortgefecht mit seiner Mutter (der leiblichen).
SONNTAG, 20. MÄRZ
Wie stellt man mit einer Uhr fest, wo Norden ist? Den Stundenzeiger Richtung Sonne halten: der halbe Winkel zur 12 zeigt nach Süden. Gefunden in Tschick. Wie geht es Herrndorf?
Gretchenfrage des Tages.
Gegen oder für den Krieg gegen Libyen? Wenn man hört, wie vehement sowohl die Grünen als auch die SPD die Kriegsbeteiligung Deutschlands herbeizuschreien versuchen, muss man einfach dagegen sein. Nicht dass Merkel und Westerwelle plötzlich zu Pazifisten geworden sind, es sind wohl die anstehenden Landtagswahlen der Grund für die Enthaltung.
MONTAG, 21. MÄRZ
Beim Bäcker Kaffee und zwei Zeitungen. In beiden Fotos von S. (in der TA allein vorm Klavier sitzend und spielend, in der TLZ ein Gruppenfoto). Eine der Zeitungen erklärt kurz und knapp, dass ALGII aus Steuer„mitteln“ bezahlt werde, und der Leser soll sich wohl fragen, ob es nicht besser wäre, diese Steuer„mittel“ ausschließlich zum Retten von Banken und zum Führen von Kriegen zu verwenden statt sie an Menschen zu verschwenden.
Kleines Contra Herrndorf.
Ein wenig nachdenklich macht mich schon (bei aller Begeisterung), dass Herrndorf seine Helden sowohl in In Plüschgewittern als auch in Tschick heterosexuell versagen lässt, was durchaus nicht unsympathisch wäre, wenn er sie nicht auch unter einer nicht nur latenten Homophobie leiden ließe...
DIENSTAG, 22. MÄRZ
Binsenweisheit des Tages.
Auch wenn man von Altersarmut verschont bleiben sollte – Altersanmut darf mit Sicherheit nicht zu erwarten sein.
Binsenweisheit des Tages II.
In der Demokratie setzt sich, wie jeder weiß, stets das Mittelmaß durch. Das Bessere und das Schlechtere werden links (jenes) bzw. rechts (dieses) liegengelassen.
Großes Pro Herrndorf Oder Schüchterner Wiedergutmachungsversuch.
„Tschick war mit dem Kopf auf das Armaturenbrett gesunken. Ich legte eine Hand in seinen Nacken, und dann saßen wir da und hörten ’Ballade pour Adeline’, und ich dachte einen Moment darüber nach, auch schwul zu werden. Das wäre jetzt wirklich die Lösung aller Probleme gewesen, aber ich schaffte es nicht.“ (Wolfgang Herrndorf, Tschick, S. 214)
Mit anderen Worten: Tschick ausgelesen – Leben gerettet! Wenigstens und vorläufig das eigene.
Fernsehn am Abend. Neues aus der Anstalt, Urban Priol: „Planung ist (nur) der Ersatz des Zufalls durch den Irrtum.“ Neues aus der Talkshow-Anstalt. Werner Schneyder: „Wachstumsideologie ist eine Geisteskrankheit.“
DONNERSTAG, 24. MÄRZ
Japan explodiert weiter und exportiert weiter Strahlen in die Welt; Krieg gegen Libyen; Brüderle sagt die Wahrheit und nimmt die Sündenbockbürde von der Kanzlerin (wie im letzten Jahr Westerwelle). Oder genauer: Es wird ihm nahegelegt, die Bürde auf seinen Brüderle-Schultern zu schultern. Schlaue Merkel!
Fragen des Tages.
Lieber ZEIT-Schriftsteller Adolf Muschg, wie Sie allerbestens und allererstens wissen, ist das Wort Super-GAU Quatsch. Warum verschonen Sie uns dann nicht mit ihm? Und wieso heißen Sie immer noch Adolf???
SONNABEND, 26. MÄRZ
Um zehn S. abgeholt. Nach dem Mittagessen zum Pferd. Die Kleine die ganze Fahrt über ganz aufgekratzt. Ich zu ihr mit Jens Friebes Worten: „Du freust dich ja gar nicht“. Da lacht sie natürlich und fragt mich so was Ähnliches wie das Folgende: „Papa, kann es auch passieren, dass nicht nur, wie schon mal vorgekommen, Hochhäuser den Flugzeugen beim Fliegen im Wege stehen, sondern auch Atomkraftwerke?“ Da schmunzle nun ich, und ich denke: Eigentlich lustig, dass jeder weiß, dass man damit rechnen muss und es trotzdem AKWs gibt in unserm Land. Auch nicht schön das eisekalte Regenwetter. Also nur Abäppeln (auf) der Koppel und Striegeln des Pferdeponys Alissa
Fußballspiel im Fernsehn. Deutschland 4:0 gegen Kasachstan (Sy. wusste vorhin auch nicht, warum Kasachstan Mitglied der UEFA ist).
SONNTAG, 27. MÄRZ
Baden-Württemberg-Wahl. Zeige meine Ehrerbietung vor den Südwestlern, indem ich mich ganz häuslich gebe: Holz gestapelt, Mittagessen gegessen, Wäsche gewaschen, Fenster geputzt, das Haus gewischt und die Duschkabine gesäubert. Und dann das: es droht ein grüner Ministerpräsident im Ländle. Erst GAU in Fukushima, nun in Stuttgart. Die Gesichter der Schwarz-Gelben verfärben sich zusehends grün-rot. Und noch viel mehr und noch viel blödere Politikfarbenmetaphern im Kopp.
Binsenweisheit des Tages.
Merkel und Westerwelle werden umdenken müssen? Umdenken geht doch nur, wenn man sein Denkvermögen nicht eingetauscht hat gegen Macht (oder Geld oder was auch immer).
DIENSTAG, 29. MÄRZ
Rundreise mit der Bahn (eigentlich: mit dem Zug und auf der Bahn) durch Mittel- und Süddeutschland. Besserverdienergattinnen (besser: Besserverdienernutten) auf dem Bahnsteig; Paradies im Morgenfrost; das Saaletal bergauf, vorbei an Randtannen und dem unheimlichen Örtchen namens Gabe Gottes; als es wieder bergab geht in den Tälern zwischen den Hügeln südlich Nürnbergs die unvermeidlichen Kirchturmminarette: Wolkenkratzer der Provinz, in die sich selten ein Flugzeug verirrt; die Hochebene westlich Augsburgs durchquert; jeden Moment scheint, im dunstigen Frühlingssonnenschein, der große Fluss überzuschwappern über die Gleise und die Hauptsitze der weltmarktführenden Familienunternehmen, auf die hier jedes reiche Kuhdorf stolz sein darf dank der noch viel reicheren – äh, zahlreicheren – afrikanischen Großstadtslumfamilien: übelkeitserregende Anmut – beidseitig ausschlagender Kulturschock; geradezu demütig das (Durch)hängen des Ulmer Hauptbahnhofsvordachs ... Im EuroCity, der die furchtbar berühmten Eurocitys Klagenfurt und Siegen verbindet: Seichte Klagen bis wir endlich siegen und noch mehr bescheuerte Gedanken; Geislingen an der Steige umrundet, die Gleise dem Berg folgend, (noch) keine geradlinig durchpfeilenden Hochgeschwindigkeitsstreckenbrückenmonster wie im Thüringer Wald (Großbreitenbach); Untertürkheims Benz-Fabrik, Untertürkheims Benz-Museum, Untertürkheims Benz-Arena: Architekturperlen ohne Platz zum Atmen; Stuttgart-21, der im Abteil telefonierende Business-Idiot steigt aus, verabschiedet sich höflich-idiotisch, Obstbäume blühen rosa auf dem Weg (der Bahn) nach Heidelberg; Aufenthalt in Frankfurt: Vor dem Hauptbahnhof großkriminelle Bankspekulanten und nicht wenige weniger gut organisierte kleinkriminelle Terroristen, ein paar Altstoffsammler und viel mehr Männer auf der Suche nach anders gearteter Befriedigung, höfliche Asylerhoffer und rücksichtslose Behinderte, zwei DB-Sicherheitsangestellte im schwärmerischen Plausch über den verloren gegangenen Vorsprung der Stasisicherheitskraft: und zum ersten Mal fällt mir auf, dass Frankfurt die einzige Großstadt des Landes ist, der einzige Melting-Point-Schmelztiegel! In der Mobil-Zeitung der Bahn ein schüchterner Hinweis auf Jan Weiles Bahnhof-Altenbeken-Remineszenz (Die wildwestfählische Pause, faz.net) und ein Foto des konjunkturprogramm-rundumsanierten und umwelteffizient-energieverbraucheinsparenden Dessauer Hauptbahnhof-Schmuckstücks, alles ganz prima, aber nicht ein einziger Mensch ist zu sehen auf dem Foto. In ernüchterter Stimmung finde ich, zwischen Fulda und Gotha, in Herrndorfs Kurzgeschichte Der Weg des Soldaten (in: Diesseits des Van-Allen-Gürtels) diesen lebensklugen Satz über die Verlorenheit der Nürnberger Kunststudentinnen: „Viele kamen von Waldorfschulen und lasen Faschistenliteratur.“ (ebd., S. 9)
Freitag, 11. März 2011
Kapitel 2
MITTWOCH, 2. FEBRUAR
Jedem das Seine (Platon) oder Wie auch immer (Semprun).
Der Buchenwald ist leicht verschneit und eisigkalt. Es ist kurz nach halb zwölf, die Sonne verschwindet hinter trüben Wolken. Wir lauschen den Worten unserer Führerin.
Sie spricht von den Bluthunden der SS, die nicht wenige der am Bahnhof Buchenwald ankommenden Häftlinge, die den Karachoweg im Laufschritt entlangzulaufen hatten, „in Stücke rissen“, so dass alle Ankömmlinge, die diese Szenen mitzuerleben hatten, wussten, was ihnen bevorstehen werde; sie spricht von der Blutstraße, die Hunderte Häftlinge das Leben kostete, nicht nur denjenigen, die sie, meist mit bloßer Hand, zu erbauen, sondern auch denjenigen, die sie tagein-tagaus zu benutzen hatten auf dem Weg zur Arbeit im Steinbruch oder im Rüstungswerk (und auf dem Weg von dort zurück ins Lager, immer ein Lied auf den Lippen habend, so war es Vorschrift); sie erzählt von der Ausbildungsstätte der SS-Totenkopfeinheiten, geformt von jungen Männern, die einen mindestens hundertjährigen arischen Stammbaum nachweisen konnten, wenigstens 1,72 m groß waren (1,80 m, schreibt Kogon) und vorzugsweise aus verarmten, asozialen Verhältnissen stammten (hier treffen sich beide wieder, unsere Führerin und der ehemalige Häftling); sie spricht von den Foltermethoden im Bunker, der sich links des Lagertores befand und in welchem nicht nur Paul Schneider „ums Leben kam“; sie erklärt uns, dass, wenn die Weimarer es gewollt hätten, sie alles hätten wissen können über die Lebensbedingungen im Lager (und also auch alles wussten); sie erwähnt die farbigen Dreiecke, die alle Häftlinge auf ihre Hemden zu nähen hatten und durch die sie, für alle, nicht nur für die Aufseher, sondern auch für die Mithäftlinge, jederzeit sichtbar kategorisierbar wurden, was eine zwangsläufige Hierarchie unter den Häftlingen nach sich zog, eine Hierarchie, von der auch Semprun schrieb und an deren Spitze die deutschen Kommunisten standen, während am anderen Ende die Kriminellen, Homosexuellen und Juden auf noch viel wackligeren Füßen standen; sie sagt, dass das Lager zwischen 1945 und 1950 von den sowjetischen Besatzern weitergeführt wurde, so, wie es unter den Siegermächten vertraglich vereinbart worden war (auch die Amerikaner, Briten und Franzosen unterhielten Lager), sie verschweigt aber auch nicht, dass sich unter den Gefangenen, die zum großen Teil aus Nazi-Kriegsverbrechern bestanden, auch politische Gefangene befanden (ca. 20 Prozent).
Auf dem zwei Hektar großen Appellplatz, der sich zwischen dem Lagertor mit der Inschrift, die nicht nur Goethe, sagt Semprun, bei seinen regelmäßigen Spaziergängen mit Eckermann ins Philosophieren gerieten ließ, und der Goethe-Eiche, welche beim Angriff US-amerikanischer Bomber auf die neben dem Lager gelegenen Gustloff-Werke im August 1944 zerstört wurde, sich zu erstrecken begann, erfahren wir vom Schicksal der letzten Häftlinge in den letzten Tagen des KZs. Diese wurden, die Kapazität des Lagers war restlos erschöpft, in fensterlosen, mobilen Pferdeställen „untergebracht“, welche sich hangabwärts nördlich der Baracken befanden, an der Stelle etwa, wo die Häftlinge bei klarem Wetter einem vorzüglichen Ausblick über das Thüringer Becken bis hin zum Harz ausgesetzt waren. In den für 60 Pferde bemessenen Ställen waren zwischen 1600 und 2000 Häftlinge eingepfercht, vieretagig übereinanderliegend. Die kräftigsten Häftlinge lagen oben (dort befanden sich Lüftungsschlitze) und die sich bereits im Sterben befindlichen ganz unten. Weil es nicht genug Liegeplätze gab, ein Liegeplatz aber überlebenswichtig war, verließen diejenigen Häftlinge, die einen solchen erkämpft hatten, diesen nicht einmal zur Verrichtung der Notdurft.
Plötzlich wird der Wind stärker, und mir ist so kalt, dass ich mir wünsche, mich etwas aufwärmen zu können an den Öfen der berühmten Firma Topf & Söhne im Krematorium. Das wünsche ich mir wirklich, und mir wird klar, wie schnell es geht, schon unter leicht widrigen Umständen zu perversen Gedanken verführt zu werden. (Aber was heißt hier Verführung: ich denke diesen Gedanken und niemand hat mich zu diesem „verführt“). Vielleicht ist es zum Wenigsten das (dass die Umstände das Denken beeinflussen), was man hier, an diesem Ort, lernen soll? Dann denke ich, schlotternd und abermals beschämt über diesen nächsten Gedanken, dass die nationalsozialistische Herrenmenschenideologie durchaus ein Spiegelbild der Idee der Juden war, ein auserwähltes Volk zu sein. Das ist natürlich ein höchst ekelhafter Gedanke, aber auch Jorge Semprun war durchaus ungerecht, als er in seinem Roman schrieb, die KZs der Nazis seien Zerrspiegelbilder der stalinistischen Gulags gewesen (ebd., S. 412). Auserwähltheitsphantasien führen, denke ich weiter, ganz egal, ob sie erfolgreich umgesetzt werden oder hoffentlich verpuffen, in den Untergang, was man nicht zuletzt am Schicksal der sich einst ebenso auserwählt wähnenden Proletarierklasse sehen kann. Und ich erinnere mich an jenes (fiktive) Gespräch zwischen Goethe und Eckermann vor dem Lagertor, von dem Semprun erzählt und in welchem Goethe zu der weisen Ansicht gelangte, dass die Epoche des Internationalismus, auch beinahe hundert Jahre nach dem Kommunistischen Manifest, noch immer nicht gekommen sei. Was ihm, Goethe, lange vor vielen anderen, klar gewesen sei, war, dass jemand, der wie Stalin glaubte, es könne einen Sozialismus in einem Land geben, sich nicht nur von der Idee des Kommunismus verabschiedet, sondern einer wie auch immer gearteten Form eines Nationalsozialismus das Wort spricht.
Ich will unsere Führerin fragen, wer denn nun, was die Angst der Juden vor den Russen betraf, Recht gehabt habe, Jorge Semprun, der in der eindringlichsten Szene seines Buchs von den Juden aus Tschenstochau berichtet, welche, nachdem sie von ihren SS-deutschen Aufpassern endlich allein und in Ruhe gelassen wurden im Lager, diesen hinterherliefen und sich freiwillig (als hätten sie, falls es so etwas überhaupt gibt, nach all der Qual noch einen freien Willen haben können) nach Buchenwald deportieren ließen, weil sie sich sicher waren, dass die Russen, die vor den Toren des Lagers standen, sie noch mehr hassten als es die Deutschen taten (S. 280 ff.), oder ob es nicht doch Jurek Becker war, welcher in seinem Roman Jakob der Lügner die Bewohner eines polnischen Judenghettos auf die Ankunft der Roten Armee hoffen lässt. Und ich will sie fragen, ob es stimmt, dass aus den Lautsprechern, die auf den Wachtürmen installiert waren, immer und immer wieder Musik von Zarah Leander erklang (als ob dies eine richtige und keine falsche Frage wäre), aber ich bekomme den Mund nicht auf wegen der Kälte, und kurz darauf, in dem kantinenartigen Museumscafé, bei einer halbvollen Tasse überteuerten Automatenmilchkaffees, frage ich T., ob die Verbrechen der Katholischen Kirche nicht zehn mal grausamer waren als diejenigen Hitlers und Stalins zusammen (oder fragte ich ihn erst, als wir wieder zu Hause waren und vor dem lodernden Kamin saßen). Und jetzt, wo ich dies notiere, erinnere ich mich an den Satz eines bekannten Hamburger Sozialdemokraten (von Dohnanyi), den dieser vor ein paar Wochen in einer Talkshow des öffentlich-rechtlichen Fernsehens vom Stapel ließ (wie man in Hamburg so sagt). Er meinte (sinngemäß), es sei schon recht gewesen, die Luxemburg zu erledigen, so sei Deutschland eine Frau Stalina erspart geblieben.
Zuvor erleben wir, kurz vor dem Ende der Führung, in der nachgestellten Genickschussanlage einen kleinen Disput zwischen der Führerin unserer Gruppe und dem Führer einer Schulklassengruppe. Die beiden scheinen sich nicht abgesprochen zu haben, was die Führungszeiten angeht, oder einer von beiden hat sich nicht an die Abmachung gehalten. Dabei hätten die beiden viel eher Grund gehabt, darüber zu streiten, woran es liegt, dass eine Mordanlage, die zur Tötung ausschließlich sowjetischer Kriegsgefangener ab einem bestimmten Dienstgrad diente, in jedem Detail ihrer Grausamkeit vorgestellt werden kann, die Mordanlage jedoch, die das Konzentrationslager für eine Mehrzahl der Insassen darstellte, seltsam nichtmateriell bleibt. Hätte man nicht wenigstens den Galgen, der auf dem Appellplatz stand, stehen lassen können?
Es gab, berichtet Semprun in seinem Roman, auch Russen im Lager, Kriegsgefangene, die aufgrund ihres geringeren Dienstgrades nicht sofort hingerichtet wurden. Diese Russen, schreibt Semprun, waren es, die, was kaum einer verstand und weswegen mancher glaubte, sie seien verrückt, beim ersten zarten Frühlingshauch zu verduften versuchten. Das hätten sie, schreibt Semprun, auf Solschenyzin und Schalamow verweisend, nicht nur in Buchenwald versucht, sondern überall wo man sie gefangen hielt. Und dies, obwohl (oder gerade weil?) sie sich der Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens bewusst waren. Einmal sei es passiert, dass ein junger Russe mit lautem Indianergeheul auf den Lippen (als ob er sicher gehen wollte, auch wirklich entdeckt und ordnungsgemäß abgeknallt zu werden) in Richtung des Buchenwalder Stacheldrahtzaunes rannte.
Mein Besuch der Gedenkstätte endet in der Nacht auf dem Fernsehkanal des Mitteldeutschen Rundfunks. Dort wundert sich der amerikanische Entnazifizierungsmajor, er wird gespielt von Harvey Keitel, wie es bloß sein könne, dass der Superdirigent Wilhelm Furtwängler, welchen er zu verhören hatte, einerseits behaupte, ganz vielen Juden geholfen zu haben, das Land zu verlassen und sie somit vor der Deportation gerettet zu haben, andererseits aber von nichts gewusst haben wolle. Dieser Film, Der Fall Furtwängler, ist im Übrigen ein noch üblerer Klitterschinken als Eichingers Der Untergang mit Bruno Ganz – spätestens am Ende wird das klar, als Major Arnold einsehen muss, dass Furtwängler kein anderes Argument für seine Unschuld anzuführen gelingt, als das, zu etwas Höherem berufen, mit anderen Worten, ein Herrenmensch zu sein. Der Gipfel des Spektakels ist, dass des Majors Mitarbeiter, ein deutscher Exiljude, mittlerweile Lieutenant bei der British Army, und eine junge deutsche Sekretärin im Laufe des Films und ganz unverhohlen ins Lager der sentimental-brutalen Nazikindheitserinnerungsverklärung wechseln: vor den (sichtbaren, reellen?) Bildern von Bulldozern, die zerschundene Leiber vor sich her und in Massengräber schieben, schließen sie die Augen, nicht aber vor den (inneren, auf ewige tausend Jahre gespeicherten) Bildern, die die Ehrerbietungen des Dirigenten seinem Führer gegenüber zeigen.
FREITAG, 4. FEBRUAR
Hole S. im Fürstenhaus ab. Die Lehmstedt sehr unzufrieden: andere Kinder würden viel schneller lernen, bis Dienstag sei dies und das zu können, sonst werde sie das Alles-andere-als-ein-Wunderkind nicht mehr unterrichten. S. am Boden zerstört, weint, als wir das Zimmer verlassen. Gehe mit ihr, wie versprochen, in den Spielzeugladen in der Schützengasse und kaufe ihr zwei Haflinger-Schleich-Pferde (jetzt hat sie also ihre zwei Pferde, und es sind Pferde und nicht nur Ponys!).
SONNABEND, 5. FEBRUAR
Im Radio erst eine enervierende Sing-Sang-Inge-Keller in Hacksens Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe und dann eine dreistündige lange Nacht über den zeitlebens krachschlagenden „Theatermacher“ Thomas Bernhard.
Frage des Tages.
Die Vielfalt des Westens, sein Begehr, für jedermanns Abwechslung zu sorgen, dies lässt mich heute fragen, ob auch derjenige Abwechslung braucht, der liebt? Oder anders gefragt: Untergräbt der Westen die Möglichkeit zu lieben?
SONNTAG, 6. FEBRUAR
Unwort des Tages.
Schuldkult (Bezeichnung für das Bedürfnis der Deutschen, die Stätten der Verbrechen ihrer Vorfahren aufzusuchen).
Worte an einen Krummdenkenden.
Die Begründung, den Besuch der Gedenkstätte Buchenwald abzulehnen, da man ganz gut ohne diesen Schuldkult (siehe oben) leben könne, kann im Grunde, denkt man genau so krumm, ganz leicht entkräftet werden. Denn was man dort, auf dem Gelände der Gedenkstätte Buchenwald, geboten bekommt, ist deutsche Ingenieurskunst auf der Höhe der Zeit, auf der Höhe aller Zeiten, also das ganze Gegenteil von Kult, nämlich Kultur, und zwar, im Gegensatz zur klassischen deutschen Goethe-Schiller-Herder-Wieland-Kultur, klassische deutsche Industriekultur. Nirgendwo auf der Welt gab es robustere, sicherere und leistungsfähigere Verbrennungsöfen als im Konzentrationslager Buchenwald (und im von der Deutschen Bank finanzierten Konzentrationslager Auschwitz).
Zehnfaches, im Vergleich zu den Öfen, die in Treblinka zum Einsatz kamen, leisteten die Mehrkammermuffelöfen, die, einem „Wunderwerk“ gleich, von den Ingenieuren der Erfurter Ofenbaufirma Topf & Söhne in die Welt oberhalb Weimars und östlich der erst später zu einiger Berühmtheit kommen sollenden Oder-Neisse-Grenze gesetzt wurden. Nicht nur die auf Schienen geführte Leicheneinschiebekonstruktion hatte man sorgfältig optimiert: Obwohl kein Sarg in die Öfen gepasst hätte (dazu wäre die Ofenöffnung zu klein gewesen), konnten bis zu drei Leichen gleichzeitig eingeschoben werden. Von dem zu erwartenden Verbrennungsgewicht der Häftlinge, welches, wie den Ingenieuren nicht unverborgen geblieben sein dürfte, zwischen 25 und 41 Kilogramm betrug, hatten sie auf den für den Bau der Öfen und ihrer Öffnungen wichtigen Körperumfang geschlossen. Oberingenieur Kurt Prüfer und seine Untergebenen hatten sich naturgemäß nicht verrechnet. Seinen Stolz nicht verbergen wollend und könnend, meldete der unter Prüfer arbeitende Ingenieur Fritz Sander 1942 ein Patent an für einen „kontinuierlich arbeitenden Leichen-Verbrennungsofen für Massenbetrieb.“
Was ich eigentlich sagen will, ist, dass der Begriff Schuldkult von vorn bis hinten falsch ist; weder die erste noch die zweite Silbe stimmen. Im Übrigen scheint mir das Wort nicht mehr als ein rhetorischer Kniff zu sein, der lediglich bezwecken soll, die Zuverlässigkeit von Reflexen (meiner Reflexe) zu testen.
Lese mal wieder ein paar Seiten in Henscheids Literaturkritik-Brocken von Zweitausendeins, und es ist ja wirklich so, dass mindestens neunzig Prozent dessen, was da zu lesen ist, uninteressant genug war, um es noch einmal zu veröffentlichen. Ein wuchernder Metastasenherd.
Auf CD die Lange Nacht über Thomas Bernhard: Der ganze Bernhard ein übertreibend-wiederholdend-komisches Plädoyer gegen nationalsozialistische Katholiken, katholische Nationalsozialisten und auch, wie könnte es anders sein, gegen sozialdemokratische Nationalsozialisten und nationalsozialistische Sozialdemokraten. Die nach wie vor naturgemäß unbeantwortete Frage: wofür plädierte Bernhard?
MONTAG, 7. FEBRUAR
Die FAZ, heute, nach meiner kleinen Email, im richtigen Briefkasten, ehrt Ulrich Peltzer, der sich nicht wehren kann, als Adoranten von Foucault und Deleuze.
Frage des Tages.
Wie kann ein Kritiker mein Feind sein? (vgl. Peter Hacks, Das Arboretum)
DIENSTAG, 8. FEBRUAR
Binsenweisheit des Tages I.
Krieg ist der Terror der Reichen.
Empört euch!
Kaufe und lese Stéphane Hessels Empört euch! (übersetzt von Michael (?) Kogon, dem Sohn von Eugen Kogon). Der Autor, dessen schmales Büchlein, welches man in zwanzig Minuten gelesen hat, in Frankreich für Furore sorgt, war, wie Jorge Semprun, in dessen Buch Was für ein schöner Sonntag Hessel auch namentlich Erwähnung fand, Häftling im Konzentrationslager Buchenwald. Hessel entwickelte sich jedoch nicht, wie Semprun, zu einem Anti-Hegelianer, sondern hält es auch heute noch mit dem großen deutschen Philosophen. (Zur Erinnerung: Semprun nahm Hegel, dem er die Wiederbelebung der „Teufelsmethode Dialektik“ vorwarf, in seinem Buch auch dafür in Haftung, die Grundlage des totalitären SS-Staates geliefert zu haben, was am deutlichsten beim allmorgendlichen und allabendlichen Appell zum Ausdruck gekommen sei, wenn der SS-Appellmann „Das Ganze stillgestanden!“ schrie.) Von derlei Verbiegungen ist Hessel frei, und er ist auch zu loben dafür, dass er Sartre auf den Stand der Zeit bringt, indem er dessen Terrorismusapologie eine Gewaltlosigkeitsillusion entgegensetzt. Gegen die Lethargie, gegen den Irrglauben, die zur Zeit durchaus bedrohte Demokratie nicht mit allen Mitteln verteidigen zu müssen, schrieb Hessel sein aufrüttelndes Pamphlet.
Binsenweisheit des Tages II.
Terror ist eine Erscheinungsform von Verzweiflung.
Benedikt XVI.
1940, im besetzten Polen, hetzen Hitlerjungen einen jungen Polen durch die Straßen. Als sie seiner endlich habhaft geworden sind, schlagen und treten sie ihn. Plötzlich bittet der junge Mann seine Peiniger, in gebrochenem Deutsch, von ihm abzulassen: „So hört doch auf, ich werde bald Papst sein.“ Worauf ihm derjenige der Hitlerjungen, der am heftigsten zugelangt hat, mit bayerischem Akzent entgegnet: „Und ich werde dein Nachfolger sein.“ (erzählt von Wiglaf Droste)
MITTWOCH, 9. FEBRUAR
Eugen Kogon: Der SS-Staat.
Den Verdienst der von den Amerikanern in Auftrag gegebenen Auftragsarbeit nicht in Abrede stellen wollend: Aber wenn ich lesen muss, wie weit der Scheißnazieinfluss sich niederschlägt in den Worten eines ganz bestimmt standhaft-integren Menschen, dann komme auch ich nicht weiter als bis zur Hälfte dieser akribischen Studie. Das Gemeine ist, dass man Kogon im Grunde nichts vorwerfen kann; vorwerfen jedoch muss man all den Leuten, die diesen ganzen KZ-Wahnsinn nicht miterleben mussten, dass sie viele Jahre später meinten, dieses Buch als das empfehlen zu dürfen, was es nicht ist, weil es es nicht sein konnte. Es sei denn, man meinte, sie wollten, so indirekt, wie nur möglich, hinweisen auf die Perfidität der Naziherrschaft. Allein, mir fehlt, empfehlt die ZEIT-Gräfin Dönhoff dieses Buch, der Glaube. Was ich sagen will: Zum einen unterliegt der Autor der gemeinen Verlockung, der (von der SS eingeführten?) dreieckig-farbigen Stigmatisierung der Häftlinge folgen zu dürfen, zum anderen ist er nicht davor gefeit, die unwürdige Nazisprache zu übernehmen. Nicht nur einmal finden sich Sätze, die die in vielen Konzentrationslagern von den Kommunisten geführten Häftlingsselbstverwaltungen mit den Worten verteidigen, so seien sehr viele „wertvolle Menschen“ gerettet worden, auch wenn dies auf Kosten vieler „minderwertiger Elemente“ passiert sei.
DONNERSTAG, 10. FEBRUAR
Hosni Mubarak liest was vor im Fernsehen, weswegen die Quizshow, die ich mir gerade anschaue, unterbrochen wird; nicke weg und werde wieder wach mit Heinz Erhard: Es gibt Menschen, die wollen glänzen obwohl sie keinen Schimmer haben.
FREITAG, 11. FEBRUAR
Mittags Kartoffeln und Quark. Sonnenschein draußen. Beginne, Franziska Augsteins Semprun-Biographie Von Treue und Verrat zu lesen.
Verballhorne, mit gemischtgefühligem Vergnügen, Martin-Walser-Roman- und -Novellen-Titel: Ein fliegendes Pferd; Wehen in Regensburg; Jenseits der Triebe; Landung; Hase und Wolf; Jacht; Bushs Krieg; Der zersprungene Brunnen (Ein springender Punkt); Lob eines Kritikers; Ein liegender Mann...
SONNABEND, 12. FEBRUAR
Binsenwahrheit des Tages.
Meinungen sind immer falsch; einzig Haltungen können richtig sein.
SONNTAG, 13. FEBRUAR
Lese weiter Augsteins Semprun-Biographie; im Radio schweift Wulf Kirsten immer wieder ab, kommt nicht auf den Punkt; dann 45 Minuten Stéphane Hessel auf arte: sehr eloquenter, gebildeter Philanthrop; im Abendprogramm die Großnichte Wilhelm Furtwänglers, Maria heißt sie, in einem Knoppaganda-Zweiteiler: O wie schrecklich, diese Vertriebenenschicksale. Zum Abschluss des Fernsehabends Titel Thesen Temperamente. Der Facebook-Gründer Marc Zuckerberg auf die Frage, warum ihm alle ihre Daten schenkten: Sie vertrauen mir, die Idioten.
Durchaus lausiger Tag.
Die Schweinedialektik Stalins (und seiner Jünger) oder Ernst Busse in der Zwickmühle.
Der KZ-Überlebende: ein Mitschuldiger; der in Gefangenschaft geratene Rotarmist: ein Deserteur; die gemeine Schlussfolgerung: das Gedenken gilt allein den Buchenwald-Opfern, nicht den Häftlingen, die überlebten.
Cora Stephan in der FAS: Will, folgte man ihrer kranken Argumentation, die CDU verbieten. (Das ist, so verkürzt, nicht verständlich, aber ich bringe es im Leben nicht übers Herz und übern Kopp, zusammenzufassen, was die Frau im Interview soeben verzapft hat). Glaubt mir, Genossen! Und glaubt mir auch, dass es mir lieber wäre, sie, die FAS (resp. FAZ), begnügte sich (statt sich derart zu blamieren) mit ihren drei (Säulen)heiligen: Schmitt, Heidegger und Jünger; denn wenn’s noch doller wird, tut’s einfach zu sehr weh.
Leider noch viel ärger der Ärger über HHH (Hans Heinz Holz). Der zählt, als einer der hoffentlich letzten Menschen-„Elemente“ (Kogon), Stalin, den „verdienten Mörder des Volkes“ (Brecht), welcher es ja immerhin geschafft hat, mehr Kommunisten zu erledigen als Hitler, zu der vor 150 Jahren begonnen habenden Aufklärerlinie, deren Beginn Marx und Lenin wiesen. Das ist nichts anderes als zum Kotzen und man möchte dem alten Mann seinen Beitrag am liebsten um die altersgemäß immer größer werdenden Ohren schlagen, und zwar schallend.
Was wirklich schwer zu begreifen ist, ist die Idee der revolutionären Rolle des Proletariats. Wenigstens Marx, Engels und Lenin wussten doch, dass die Existenz des Proletariats an die Existenz des Kapitalismus gebunden ist, d.h.: Ohne Kapitalismus keine Proletarier.
MONTAG, 14. FEBRUAR
Wollte man die wichtigen Begriffe retten, müsste man sagen, dass es bislang weder einen Kommunismus noch eine Sozialismus gegeben hat auf dieser Welt, die so schön sein könnte. Das spricht, glaube ich, weniger gegen Marx, Engels und Lenin, als gegen die Umstände. Sind die Umstände noch nicht reif, bekommen wir wahlweise einen Stalinismus (Sowjetunion, Ostblock), eine Baath-Diktatur (Saddam Hussein), einen langbärtigen Despoten auf einer einsamen Karibikinsel (Fidel Castro), einen Militärparadenspinner (Kim Il Sung), trottelige Anarchisten (Spanien), einen Pol-Pot (Kambodscha) oder einen Hitler (Nazi-Deutschland) vorgesetzt.
Was tun?
Ich zu V.: „Das mit dem Lesen ist so, dass ich selten ein Buch für gut genug befinde, um es von vorn bis hinten zu lesen. Ich lasse einfach die langweiligen Stellen aus. So brauche ich für ein 300-Seiten-Buch selten mehr als drei Stunden, also einen Abend. Im Vergleich: Für die richtig guten Bücher brauche ich Jahre, also für Schernikaus legende zum Beispiel, oder Hacksens Maßgaben der Kunst. Da muss man, um sich nicht um den Spaß zu betrügen, erst alles drei mal gelesen haben, bevor man bei der Viertlektüre den spitzen Bleistift ansetzen darf.“ Vs. scharfsinnige Antwort: „ich werde das vor mir liegende jahr nutzen, um tatsächlich schernikaus legende zu lesen, für das man, wie man hört, zwei jahre braucht.“
Missverständnis des Tages.
Frage: Wofür kämpfst du? Antwort: Gegen Nazis.
DIENSTAG, 15. FEBRUAR
Zu CR: „Im Grunde hast du Recht, und im Grunde beneide ich dich auch darum. Weil du nämlich weißt, dass die Liebe eine idiotische Erfindung ist, gegen die man anzugehen hat. Ich glaube, das war auch der Grund, warum ich mich in dich verliebt habe. Klingt paradox, ist aber so.“
Wiglaf Droste über die sechstgrößte Stadt Deutschlands: „Wieso eigentlich Stuttgart 21? Der VfB hat doch gerademal 19 Punkte.“ Auch Folgendes in der morgigen Zeitung gefunden: „Nach den Revolutionen in Tunesien und Ägypten wäre jetzt der Westen dran – und versagt schändlich, Guttenberg spricht vom »infektiösen Momentum«. Er hat Brecht: »Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?«“ Zweimal sehr laut gelacht.
MITTWOCH, 16. FEBRUAR
Über Macher-Menschen: pralle, kraftstrotzende Lebensenergie – aber wie für die Katz das alles!
FREITAG, 18. FEBRUAR
In Plüschgewittern.
Nach den ersten 76 Seiten: Habe Vs. Worten über diesen kleinen, hinreißenden Edelstein des Herrn Herrndorf nichts hinzuzufügen. Außer: Von wegen „Mängelexemplar“.
Anruf von M. am Abend aus schlechtem Gewissen (und aus dem gutem (Ge)wissen, kein schlechtes Gewissen haben zu müssen; komme ja, wie er besser als jeder andere weiß, als verlässlicher Reisebegleiter zur Zeit nicht in Frage).
SONNTAG, 20. FEBRUAR
Um elf S. mit dem Auto. Nichts Großartiges unternommen, aber das ist ja das Großartige, heute jedenfalls.
Hamburg-Wahl, die SPD mit absoluter Mehrheit. Höre Grass in seinen viel zu vollen Oberlippenbart brabbeln: „Da wird sie sich bestimmt freuen!“
MONTAG, 21. FEBRUAR
Weiter Herrndorf. In der Mitte des schmalen Buches eine bestürzend einleuchtende Idee Herrndorfs: Man könne, wenn man wolle, im Zentrum Berlins beginnend, eine Zeitreise an die Ostperipherie der Stadt unternehmen, also von Berlin Mitte (21. Jahrhundert) über Friedrichshain (90er Jahre), Lichtenberg (80er Jahre) nach Marzahn (70er Jahre). Würde man noch weiter östlich ziehen, was niemals zu empfehlen sei, dann käme man im Faschismus an.
Halb sieben mit Th. im C-Keller. Dort bedient der dünne junge Mann von schon mal, heute ganz in schwarz, bei dessen Anblick ich mich jedes Mal frage, woran es liegt, dass mir diese selbstbewusst betonte Dünnheit heutzutage so imponiert, während sie mir früher, als ich selbst so dünn war... Beim vierten Bier dreht Th. richtig gut auf, erzählt von einem Restaurationsausflug nach Tschechien, die Mutter seines Sohnes, damals hochschwanger, kam ihn besuchen (oder abholen?), aber er es war bereits zu spät und Th. schon schwul geworden, wenn ich das richtig verstanden habe (bin ja auch schon beim vierten Bier, oder genauer: ich bin schon fertig mit dem vierten Bier). Zuvor beklagt er sich über seinen Kollegen B., welcher am Wochenende mit Familie zu Besuch und Schweinebraten bei ihm war, und als Th. erzählt, dass die Bagage vor dem Essen betete, frage ich ihn beinahe entsetzt: die kennen wohl das hochvernünftige Prinzip der Trennung von Kirche und Küche nicht?
DIENSTAG, 22. FEBRUAR
Sitze in einem der bequemen schwarzen Sessel im Foyer der schönsten Bibliothek meiner Welt und lese in Fritz J(ott) Raddatz’ Tagebüchern (1982 – 2001). Mir schräg gegenüber sitzt der schönste Junge der Bibliothek: schwarze Anziehsachen, schwarze Tolle, leicht affektierter, grübelnde Ernsthaftigkeit vortäuschen wollender Lippenwurf (sollte man nicht besser von einem Lippenschurz sprechen?) und liest sehr konzentriert 1 ½ Stunden in einem blassgelben S.-Fischer-Taschenbuch, also bestimmt Stefan Zweig, was die naheliegendste Erklärung für seine immer finsterer werdende Miene wäre.
Klarer Kopf I.
Halbwegs klaren Kopfes: Nichts wirklich Erfahrenswertes erfahre ich in Raddatz’ eitlen Notizen (habe ja vorher auch Rühmkorfs eitles Tagebuch gelesen, welches jedoch nicht nur eitel war, sondern auch von Sprachwitz überquoll). Immerhin erfahre ich, dass er schwul ist, der Raddatz. Das wusst’ ich bislang noch nicht. Abgesehen davon auf den knapp tausend Seiten das ganze Elend der intellektuellen Schreiber-„Elite“ der Bundesrepublik (wenn es einem um die Kunst geht, MUSS man zum Gegner der (parlamentarischen) Mehrheits- also Durchschnittlichkeitsdemokratie werden!) und des Alterns als Schwuler in selbstverliebt-melancholischen Worten (dass das Ganze so weitergehen wird, wie es auf den ersten hundert Seiten begann, ist durchaus keine sehr kühne These). Am lehrreichsten für mich sind die pornographischen Passagen. Am unterhaltsamsten ist die Amsterdam-Anekdote. Eines Abends habe ihn in einer dortigen Schwulenbar ein Russe angebaggert, er glaubte nicht, dass es sich um einen Russen gehandelt habe, wie auch immer, die beiden landeten in dessen aristokratischer Hotelsuite, Raddatz ergötzte sich an der Makellosigkeit seines Körpers; ihm schwante immer noch nichts. Am nächsten Abend saß er im Theater und sah den Russen tanzen: es war NUREJEW. Der Unterschied zu den Aufzeichnungen Rühmkorfs (neben dem entscheidenden Unterschied, dass Rühmkorf vergleichsweise witzig-leicht, während Raddatz eher selbstgerecht-seicht daherkommt): Was Rühmkorf Garnelenschwänze und Muschis, sind Raddatz Austern und Riesenpimmel.
Im Grunde ist Raddatz ein armer, reicher Dekadent, ein Hedonist ohne Haltung, einer zudem, der von seinem Schmarotzertum nichts weiß (oder nichts wissen will). Wenn er denn doch mal so alle hundert Seiten (also alle zwei Jahre) ins reflektierende Nachdenken kommt, so schreibt er, er habe gelesen, dass 97 Prozent der Menschen kein selbstbestimmtes Leben führen könnten (oder mal konkreter, dass irgendein Manager 350 Millionen Dollar im Jahr kassiere, während eine Milliarde Menschen mit weniger als EINEM täglichen Dollar auskommen müssten) und dass viele Schriftsteller zu arm seien, zu ihren eigenen Lesungen zu fahren, und jeden dieser Gedanken beendet er mit einem: Aber ich habe mir das alles (drei Häuser, einen Jaguar (vorher einen Porsche), die Meissener Porzellanvasen und die zigtausend Liter Champagner) doch hart erarbeitet. Auf deutsch: Der Literaturkritiker Raddatz, dessen Reichtum ohne die vorherige Arbeit der Literaten nicht vorstellbar wäre, lobt seine Wirtsleute als faule Schweine. Und so was gilt in diesem Land als „links“: sehr witzig im Grunde.
Klarer Kopf II.
Was bei der „Doktor“-zu-Guttenberg-Affäre rauskommen wird, ist, was jeder, der bei halbwegs klarem Verstand ist, schon längst wusste: dass der akademische Kram Firlefanz und Kokolores und am Ende ein womöglich gar weniger hilfreicher als vielmehr schädlicher Fimmel ist.
Klarer Kopf III.
Die Maischberger mit Gästen im Fernsehn über Guttenbergs Mogelarbeit. Mit dabei: (1) der sich immer mehr zu einem hitzköpfig-giftenden Rumpelstilzchen verzwergende Arnulf Baring (eine gar nicht so unsympathische Art zu verschwinden im Übrigen), er stolpert naturgemäß bei seinem Versuch, sowohl vorwärts als auch rückwärts zu laufen, also zu Guttenbergs als auch der Universitäten Ehre retten zu wollen; (2) der Kabarettist Werner Schneyder (schreibt man ihn so und heißt er wirklich Werner? oder Wolfgang?), er wird immer wieder unterbrochen, weil er als einziger was wirklich Kluges sagen will, nämlich dass entscheidender als die Doktortiteldebatte eine Debatte über die ganzen vielen toten Soldaten wäre; (3) Anna Prinzessin von Bayern, sie lässt sich wirklich so nennen und ist BILD-Redakteurin, glaube ich, jedenfalls ist sie Autorin einer Lobhudelbiographie über den Schummelbaron, und sie ist mal wieder überfordert aufgrund ihrer besonders blonden Blödheit; Den schönsten Satz der Sendung darf (4) mein Lieblingskotzbrocken Jutta Ditfurth sagen, die ja, bei aller Verschwörungsverrücktheit, auch ab und an mal klaren Kopfes ist: „Heute sind die Wähler der Grünen schlimmer als die Grünen.“
MITTWOCH, 23. FEBRUAR
Seit drei Tagen Eiseskälte. Minus 15 Grad in der Nacht.
Erinnere mich am Morgen an den gemeinen Emailwechsel mit dem Waldorflehrer, von dem ich vor Jahren (da war ich noch von und bei I. gefangen) bei Ebay die Victor-Klemperer-Tagebücher kaufte. Der beschwerte sich doch damals allen Ernstes über das geringe Endgebot, mit dem ich die Auktion gewann; dafür hätte sich der ganze Aufwand nicht gelohnt, und er wolle mehr Geld. Sauer war er, denke ich heute, weil es ihm verwehrt blieb, aus den Notizen eines knapp dem Tode entronnenen jüdischen Intellektuellen Profit zu schlagen. Was für ein Pack, diese Waldörfler! (Und wie krank mein Denken).
Lese weiter Raddatz; während ich lese, fällt mir auf (die Lektüre ist beileibe nicht so fesselnd, dass man nicht abschweifen und sich umschauen könnte), dass in letzter Zeit immer wieder junge Männer in schlecht riechenden Jogginghosen lauernden Auges durch die Bibliothek streunen. Als warteten sie auf den günstigen Augenblick, Beute zu machen, zuzuschlagen, sprich: Schrankschlüssel, Geldbörsen oder wenigstens die vergessenen 1-Euro-Stücken aus den Garderobenschränken zu stehlen. Noch gemeiner die zwei dicken Lehramtsanwärter in der Cafeteria vorhin (ein Männchen und ein Weibchen), welche, ihr Gemurmel auf den Punkt gebracht, davon schwärmten, „Unterschichtskinder“ in Schulen einsperren und sie dort, damit sie ihre Dummheit nicht weitervererben könnten, kastrieren lassen zu wollen. Selten große Sehnsucht nach Margot Honecker! Lust auf ein Attentat!
DONNERSTAG, 24. FEBRUAR
Der Gedanke Theodor Lessings und Marianne Gronemeyers, das Verstehenwollen als Vernichtungswillen zu deuten, ist im Übrigen genau so absurd wie er einleuchtend ist.
Binsenweisheit des Tages.
Der Zündfunke der hoffentlich bald die ganze Welt erhellenden Aufklärung erglomm (sagt man das so?) in Arabien (auch wenn dies schon einige 100 Jahre her ist).
FREITAG, 25. FEBRUAR
„Der geistreiche Mann spielte gern mit seinen Meinungen, aber niemals mit seinen Gesinnungen.“ (Goethe über Wieland)
SONNABEND, 26. FEBRUAR
Im Radio (mdr info): Ein Mann habe sich vor einem Moskauer Kaufhaus in die Luft gesprengt. Der Mann sei dabei ums Leben gekommen. Wer hätte das gedacht!
SONNTAG, 27. FEBRUAR
Richtigstellung des Tages.
Wie jeder weiß, kommt man nach dem Leben dorthin, wo man hinkommen will (wohin man kommen will?). Die meisten wollen in den Himmel (kommen), dort wird es ziemlich eng werden. Weitaus behaglicher dürfte es darum in der Hölle zugehen. Der Himmel ist die Hölle (und andersrum).
Stand heute: Das Phantom mit dem Hund hat die Chance, die ich hatte, verspielt.
MONTAG, 28. FEBRUAR
Mich, als ich aufwache, sowohl an meinen Traum als auch an einen (Traum)-Satz Eugen Kogons erinnert. Beides hätte ich notiert, wenn ich’s nicht beinahe sofort wieder vergessen hätte – auf dem kurzen Weg vom Bett ins Bad.
Fritz J. Raddatz’ Tagebücher. Mein sich immer mehr verfestigender Eindruck: die eigenen Notizen hundertmal lesenswerter, die Vs. tausendmal mehr... Hat der Mann nicht eine Sekunde geliebt in den zwanzig Jahren (zwischen seinem 50. und 70.)? Hat er nicht einen einzigen politischen (oder wenigstens philosophischen) Gedanken gehegt in jener Zeit? Und falls nein, warum hat er DAS nicht notiert???
Verderbe mir den Abend durch das Anschauen eines Fußballspiels im Fernsehn. Aue verliert, nach hochverdienter 1:0-Führung, mit 1:2 in Augsburg (und damit wohl auch alle schüchternen Aufstiegshoffnungen).
Jedem das Seine (Platon) oder Wie auch immer (Semprun).
Der Buchenwald ist leicht verschneit und eisigkalt. Es ist kurz nach halb zwölf, die Sonne verschwindet hinter trüben Wolken. Wir lauschen den Worten unserer Führerin.
Sie spricht von den Bluthunden der SS, die nicht wenige der am Bahnhof Buchenwald ankommenden Häftlinge, die den Karachoweg im Laufschritt entlangzulaufen hatten, „in Stücke rissen“, so dass alle Ankömmlinge, die diese Szenen mitzuerleben hatten, wussten, was ihnen bevorstehen werde; sie spricht von der Blutstraße, die Hunderte Häftlinge das Leben kostete, nicht nur denjenigen, die sie, meist mit bloßer Hand, zu erbauen, sondern auch denjenigen, die sie tagein-tagaus zu benutzen hatten auf dem Weg zur Arbeit im Steinbruch oder im Rüstungswerk (und auf dem Weg von dort zurück ins Lager, immer ein Lied auf den Lippen habend, so war es Vorschrift); sie erzählt von der Ausbildungsstätte der SS-Totenkopfeinheiten, geformt von jungen Männern, die einen mindestens hundertjährigen arischen Stammbaum nachweisen konnten, wenigstens 1,72 m groß waren (1,80 m, schreibt Kogon) und vorzugsweise aus verarmten, asozialen Verhältnissen stammten (hier treffen sich beide wieder, unsere Führerin und der ehemalige Häftling); sie spricht von den Foltermethoden im Bunker, der sich links des Lagertores befand und in welchem nicht nur Paul Schneider „ums Leben kam“; sie erklärt uns, dass, wenn die Weimarer es gewollt hätten, sie alles hätten wissen können über die Lebensbedingungen im Lager (und also auch alles wussten); sie erwähnt die farbigen Dreiecke, die alle Häftlinge auf ihre Hemden zu nähen hatten und durch die sie, für alle, nicht nur für die Aufseher, sondern auch für die Mithäftlinge, jederzeit sichtbar kategorisierbar wurden, was eine zwangsläufige Hierarchie unter den Häftlingen nach sich zog, eine Hierarchie, von der auch Semprun schrieb und an deren Spitze die deutschen Kommunisten standen, während am anderen Ende die Kriminellen, Homosexuellen und Juden auf noch viel wackligeren Füßen standen; sie sagt, dass das Lager zwischen 1945 und 1950 von den sowjetischen Besatzern weitergeführt wurde, so, wie es unter den Siegermächten vertraglich vereinbart worden war (auch die Amerikaner, Briten und Franzosen unterhielten Lager), sie verschweigt aber auch nicht, dass sich unter den Gefangenen, die zum großen Teil aus Nazi-Kriegsverbrechern bestanden, auch politische Gefangene befanden (ca. 20 Prozent).
Auf dem zwei Hektar großen Appellplatz, der sich zwischen dem Lagertor mit der Inschrift, die nicht nur Goethe, sagt Semprun, bei seinen regelmäßigen Spaziergängen mit Eckermann ins Philosophieren gerieten ließ, und der Goethe-Eiche, welche beim Angriff US-amerikanischer Bomber auf die neben dem Lager gelegenen Gustloff-Werke im August 1944 zerstört wurde, sich zu erstrecken begann, erfahren wir vom Schicksal der letzten Häftlinge in den letzten Tagen des KZs. Diese wurden, die Kapazität des Lagers war restlos erschöpft, in fensterlosen, mobilen Pferdeställen „untergebracht“, welche sich hangabwärts nördlich der Baracken befanden, an der Stelle etwa, wo die Häftlinge bei klarem Wetter einem vorzüglichen Ausblick über das Thüringer Becken bis hin zum Harz ausgesetzt waren. In den für 60 Pferde bemessenen Ställen waren zwischen 1600 und 2000 Häftlinge eingepfercht, vieretagig übereinanderliegend. Die kräftigsten Häftlinge lagen oben (dort befanden sich Lüftungsschlitze) und die sich bereits im Sterben befindlichen ganz unten. Weil es nicht genug Liegeplätze gab, ein Liegeplatz aber überlebenswichtig war, verließen diejenigen Häftlinge, die einen solchen erkämpft hatten, diesen nicht einmal zur Verrichtung der Notdurft.
Plötzlich wird der Wind stärker, und mir ist so kalt, dass ich mir wünsche, mich etwas aufwärmen zu können an den Öfen der berühmten Firma Topf & Söhne im Krematorium. Das wünsche ich mir wirklich, und mir wird klar, wie schnell es geht, schon unter leicht widrigen Umständen zu perversen Gedanken verführt zu werden. (Aber was heißt hier Verführung: ich denke diesen Gedanken und niemand hat mich zu diesem „verführt“). Vielleicht ist es zum Wenigsten das (dass die Umstände das Denken beeinflussen), was man hier, an diesem Ort, lernen soll? Dann denke ich, schlotternd und abermals beschämt über diesen nächsten Gedanken, dass die nationalsozialistische Herrenmenschenideologie durchaus ein Spiegelbild der Idee der Juden war, ein auserwähltes Volk zu sein. Das ist natürlich ein höchst ekelhafter Gedanke, aber auch Jorge Semprun war durchaus ungerecht, als er in seinem Roman schrieb, die KZs der Nazis seien Zerrspiegelbilder der stalinistischen Gulags gewesen (ebd., S. 412). Auserwähltheitsphantasien führen, denke ich weiter, ganz egal, ob sie erfolgreich umgesetzt werden oder hoffentlich verpuffen, in den Untergang, was man nicht zuletzt am Schicksal der sich einst ebenso auserwählt wähnenden Proletarierklasse sehen kann. Und ich erinnere mich an jenes (fiktive) Gespräch zwischen Goethe und Eckermann vor dem Lagertor, von dem Semprun erzählt und in welchem Goethe zu der weisen Ansicht gelangte, dass die Epoche des Internationalismus, auch beinahe hundert Jahre nach dem Kommunistischen Manifest, noch immer nicht gekommen sei. Was ihm, Goethe, lange vor vielen anderen, klar gewesen sei, war, dass jemand, der wie Stalin glaubte, es könne einen Sozialismus in einem Land geben, sich nicht nur von der Idee des Kommunismus verabschiedet, sondern einer wie auch immer gearteten Form eines Nationalsozialismus das Wort spricht.
Ich will unsere Führerin fragen, wer denn nun, was die Angst der Juden vor den Russen betraf, Recht gehabt habe, Jorge Semprun, der in der eindringlichsten Szene seines Buchs von den Juden aus Tschenstochau berichtet, welche, nachdem sie von ihren SS-deutschen Aufpassern endlich allein und in Ruhe gelassen wurden im Lager, diesen hinterherliefen und sich freiwillig (als hätten sie, falls es so etwas überhaupt gibt, nach all der Qual noch einen freien Willen haben können) nach Buchenwald deportieren ließen, weil sie sich sicher waren, dass die Russen, die vor den Toren des Lagers standen, sie noch mehr hassten als es die Deutschen taten (S. 280 ff.), oder ob es nicht doch Jurek Becker war, welcher in seinem Roman Jakob der Lügner die Bewohner eines polnischen Judenghettos auf die Ankunft der Roten Armee hoffen lässt. Und ich will sie fragen, ob es stimmt, dass aus den Lautsprechern, die auf den Wachtürmen installiert waren, immer und immer wieder Musik von Zarah Leander erklang (als ob dies eine richtige und keine falsche Frage wäre), aber ich bekomme den Mund nicht auf wegen der Kälte, und kurz darauf, in dem kantinenartigen Museumscafé, bei einer halbvollen Tasse überteuerten Automatenmilchkaffees, frage ich T., ob die Verbrechen der Katholischen Kirche nicht zehn mal grausamer waren als diejenigen Hitlers und Stalins zusammen (oder fragte ich ihn erst, als wir wieder zu Hause waren und vor dem lodernden Kamin saßen). Und jetzt, wo ich dies notiere, erinnere ich mich an den Satz eines bekannten Hamburger Sozialdemokraten (von Dohnanyi), den dieser vor ein paar Wochen in einer Talkshow des öffentlich-rechtlichen Fernsehens vom Stapel ließ (wie man in Hamburg so sagt). Er meinte (sinngemäß), es sei schon recht gewesen, die Luxemburg zu erledigen, so sei Deutschland eine Frau Stalina erspart geblieben.
Zuvor erleben wir, kurz vor dem Ende der Führung, in der nachgestellten Genickschussanlage einen kleinen Disput zwischen der Führerin unserer Gruppe und dem Führer einer Schulklassengruppe. Die beiden scheinen sich nicht abgesprochen zu haben, was die Führungszeiten angeht, oder einer von beiden hat sich nicht an die Abmachung gehalten. Dabei hätten die beiden viel eher Grund gehabt, darüber zu streiten, woran es liegt, dass eine Mordanlage, die zur Tötung ausschließlich sowjetischer Kriegsgefangener ab einem bestimmten Dienstgrad diente, in jedem Detail ihrer Grausamkeit vorgestellt werden kann, die Mordanlage jedoch, die das Konzentrationslager für eine Mehrzahl der Insassen darstellte, seltsam nichtmateriell bleibt. Hätte man nicht wenigstens den Galgen, der auf dem Appellplatz stand, stehen lassen können?
Es gab, berichtet Semprun in seinem Roman, auch Russen im Lager, Kriegsgefangene, die aufgrund ihres geringeren Dienstgrades nicht sofort hingerichtet wurden. Diese Russen, schreibt Semprun, waren es, die, was kaum einer verstand und weswegen mancher glaubte, sie seien verrückt, beim ersten zarten Frühlingshauch zu verduften versuchten. Das hätten sie, schreibt Semprun, auf Solschenyzin und Schalamow verweisend, nicht nur in Buchenwald versucht, sondern überall wo man sie gefangen hielt. Und dies, obwohl (oder gerade weil?) sie sich der Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens bewusst waren. Einmal sei es passiert, dass ein junger Russe mit lautem Indianergeheul auf den Lippen (als ob er sicher gehen wollte, auch wirklich entdeckt und ordnungsgemäß abgeknallt zu werden) in Richtung des Buchenwalder Stacheldrahtzaunes rannte.
Mein Besuch der Gedenkstätte endet in der Nacht auf dem Fernsehkanal des Mitteldeutschen Rundfunks. Dort wundert sich der amerikanische Entnazifizierungsmajor, er wird gespielt von Harvey Keitel, wie es bloß sein könne, dass der Superdirigent Wilhelm Furtwängler, welchen er zu verhören hatte, einerseits behaupte, ganz vielen Juden geholfen zu haben, das Land zu verlassen und sie somit vor der Deportation gerettet zu haben, andererseits aber von nichts gewusst haben wolle. Dieser Film, Der Fall Furtwängler, ist im Übrigen ein noch üblerer Klitterschinken als Eichingers Der Untergang mit Bruno Ganz – spätestens am Ende wird das klar, als Major Arnold einsehen muss, dass Furtwängler kein anderes Argument für seine Unschuld anzuführen gelingt, als das, zu etwas Höherem berufen, mit anderen Worten, ein Herrenmensch zu sein. Der Gipfel des Spektakels ist, dass des Majors Mitarbeiter, ein deutscher Exiljude, mittlerweile Lieutenant bei der British Army, und eine junge deutsche Sekretärin im Laufe des Films und ganz unverhohlen ins Lager der sentimental-brutalen Nazikindheitserinnerungsverklärung wechseln: vor den (sichtbaren, reellen?) Bildern von Bulldozern, die zerschundene Leiber vor sich her und in Massengräber schieben, schließen sie die Augen, nicht aber vor den (inneren, auf ewige tausend Jahre gespeicherten) Bildern, die die Ehrerbietungen des Dirigenten seinem Führer gegenüber zeigen.
FREITAG, 4. FEBRUAR
Hole S. im Fürstenhaus ab. Die Lehmstedt sehr unzufrieden: andere Kinder würden viel schneller lernen, bis Dienstag sei dies und das zu können, sonst werde sie das Alles-andere-als-ein-Wunderkind nicht mehr unterrichten. S. am Boden zerstört, weint, als wir das Zimmer verlassen. Gehe mit ihr, wie versprochen, in den Spielzeugladen in der Schützengasse und kaufe ihr zwei Haflinger-Schleich-Pferde (jetzt hat sie also ihre zwei Pferde, und es sind Pferde und nicht nur Ponys!).
SONNABEND, 5. FEBRUAR
Im Radio erst eine enervierende Sing-Sang-Inge-Keller in Hacksens Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe und dann eine dreistündige lange Nacht über den zeitlebens krachschlagenden „Theatermacher“ Thomas Bernhard.
Frage des Tages.
Die Vielfalt des Westens, sein Begehr, für jedermanns Abwechslung zu sorgen, dies lässt mich heute fragen, ob auch derjenige Abwechslung braucht, der liebt? Oder anders gefragt: Untergräbt der Westen die Möglichkeit zu lieben?
SONNTAG, 6. FEBRUAR
Unwort des Tages.
Schuldkult (Bezeichnung für das Bedürfnis der Deutschen, die Stätten der Verbrechen ihrer Vorfahren aufzusuchen).
Worte an einen Krummdenkenden.
Die Begründung, den Besuch der Gedenkstätte Buchenwald abzulehnen, da man ganz gut ohne diesen Schuldkult (siehe oben) leben könne, kann im Grunde, denkt man genau so krumm, ganz leicht entkräftet werden. Denn was man dort, auf dem Gelände der Gedenkstätte Buchenwald, geboten bekommt, ist deutsche Ingenieurskunst auf der Höhe der Zeit, auf der Höhe aller Zeiten, also das ganze Gegenteil von Kult, nämlich Kultur, und zwar, im Gegensatz zur klassischen deutschen Goethe-Schiller-Herder-Wieland-Kultur, klassische deutsche Industriekultur. Nirgendwo auf der Welt gab es robustere, sicherere und leistungsfähigere Verbrennungsöfen als im Konzentrationslager Buchenwald (und im von der Deutschen Bank finanzierten Konzentrationslager Auschwitz).
Zehnfaches, im Vergleich zu den Öfen, die in Treblinka zum Einsatz kamen, leisteten die Mehrkammermuffelöfen, die, einem „Wunderwerk“ gleich, von den Ingenieuren der Erfurter Ofenbaufirma Topf & Söhne in die Welt oberhalb Weimars und östlich der erst später zu einiger Berühmtheit kommen sollenden Oder-Neisse-Grenze gesetzt wurden. Nicht nur die auf Schienen geführte Leicheneinschiebekonstruktion hatte man sorgfältig optimiert: Obwohl kein Sarg in die Öfen gepasst hätte (dazu wäre die Ofenöffnung zu klein gewesen), konnten bis zu drei Leichen gleichzeitig eingeschoben werden. Von dem zu erwartenden Verbrennungsgewicht der Häftlinge, welches, wie den Ingenieuren nicht unverborgen geblieben sein dürfte, zwischen 25 und 41 Kilogramm betrug, hatten sie auf den für den Bau der Öfen und ihrer Öffnungen wichtigen Körperumfang geschlossen. Oberingenieur Kurt Prüfer und seine Untergebenen hatten sich naturgemäß nicht verrechnet. Seinen Stolz nicht verbergen wollend und könnend, meldete der unter Prüfer arbeitende Ingenieur Fritz Sander 1942 ein Patent an für einen „kontinuierlich arbeitenden Leichen-Verbrennungsofen für Massenbetrieb.“
Was ich eigentlich sagen will, ist, dass der Begriff Schuldkult von vorn bis hinten falsch ist; weder die erste noch die zweite Silbe stimmen. Im Übrigen scheint mir das Wort nicht mehr als ein rhetorischer Kniff zu sein, der lediglich bezwecken soll, die Zuverlässigkeit von Reflexen (meiner Reflexe) zu testen.
Lese mal wieder ein paar Seiten in Henscheids Literaturkritik-Brocken von Zweitausendeins, und es ist ja wirklich so, dass mindestens neunzig Prozent dessen, was da zu lesen ist, uninteressant genug war, um es noch einmal zu veröffentlichen. Ein wuchernder Metastasenherd.
Auf CD die Lange Nacht über Thomas Bernhard: Der ganze Bernhard ein übertreibend-wiederholdend-komisches Plädoyer gegen nationalsozialistische Katholiken, katholische Nationalsozialisten und auch, wie könnte es anders sein, gegen sozialdemokratische Nationalsozialisten und nationalsozialistische Sozialdemokraten. Die nach wie vor naturgemäß unbeantwortete Frage: wofür plädierte Bernhard?
MONTAG, 7. FEBRUAR
Die FAZ, heute, nach meiner kleinen Email, im richtigen Briefkasten, ehrt Ulrich Peltzer, der sich nicht wehren kann, als Adoranten von Foucault und Deleuze.
Frage des Tages.
Wie kann ein Kritiker mein Feind sein? (vgl. Peter Hacks, Das Arboretum)
DIENSTAG, 8. FEBRUAR
Binsenweisheit des Tages I.
Krieg ist der Terror der Reichen.
Empört euch!
Kaufe und lese Stéphane Hessels Empört euch! (übersetzt von Michael (?) Kogon, dem Sohn von Eugen Kogon). Der Autor, dessen schmales Büchlein, welches man in zwanzig Minuten gelesen hat, in Frankreich für Furore sorgt, war, wie Jorge Semprun, in dessen Buch Was für ein schöner Sonntag Hessel auch namentlich Erwähnung fand, Häftling im Konzentrationslager Buchenwald. Hessel entwickelte sich jedoch nicht, wie Semprun, zu einem Anti-Hegelianer, sondern hält es auch heute noch mit dem großen deutschen Philosophen. (Zur Erinnerung: Semprun nahm Hegel, dem er die Wiederbelebung der „Teufelsmethode Dialektik“ vorwarf, in seinem Buch auch dafür in Haftung, die Grundlage des totalitären SS-Staates geliefert zu haben, was am deutlichsten beim allmorgendlichen und allabendlichen Appell zum Ausdruck gekommen sei, wenn der SS-Appellmann „Das Ganze stillgestanden!“ schrie.) Von derlei Verbiegungen ist Hessel frei, und er ist auch zu loben dafür, dass er Sartre auf den Stand der Zeit bringt, indem er dessen Terrorismusapologie eine Gewaltlosigkeitsillusion entgegensetzt. Gegen die Lethargie, gegen den Irrglauben, die zur Zeit durchaus bedrohte Demokratie nicht mit allen Mitteln verteidigen zu müssen, schrieb Hessel sein aufrüttelndes Pamphlet.
Binsenweisheit des Tages II.
Terror ist eine Erscheinungsform von Verzweiflung.
Benedikt XVI.
1940, im besetzten Polen, hetzen Hitlerjungen einen jungen Polen durch die Straßen. Als sie seiner endlich habhaft geworden sind, schlagen und treten sie ihn. Plötzlich bittet der junge Mann seine Peiniger, in gebrochenem Deutsch, von ihm abzulassen: „So hört doch auf, ich werde bald Papst sein.“ Worauf ihm derjenige der Hitlerjungen, der am heftigsten zugelangt hat, mit bayerischem Akzent entgegnet: „Und ich werde dein Nachfolger sein.“ (erzählt von Wiglaf Droste)
MITTWOCH, 9. FEBRUAR
Eugen Kogon: Der SS-Staat.
Den Verdienst der von den Amerikanern in Auftrag gegebenen Auftragsarbeit nicht in Abrede stellen wollend: Aber wenn ich lesen muss, wie weit der Scheißnazieinfluss sich niederschlägt in den Worten eines ganz bestimmt standhaft-integren Menschen, dann komme auch ich nicht weiter als bis zur Hälfte dieser akribischen Studie. Das Gemeine ist, dass man Kogon im Grunde nichts vorwerfen kann; vorwerfen jedoch muss man all den Leuten, die diesen ganzen KZ-Wahnsinn nicht miterleben mussten, dass sie viele Jahre später meinten, dieses Buch als das empfehlen zu dürfen, was es nicht ist, weil es es nicht sein konnte. Es sei denn, man meinte, sie wollten, so indirekt, wie nur möglich, hinweisen auf die Perfidität der Naziherrschaft. Allein, mir fehlt, empfehlt die ZEIT-Gräfin Dönhoff dieses Buch, der Glaube. Was ich sagen will: Zum einen unterliegt der Autor der gemeinen Verlockung, der (von der SS eingeführten?) dreieckig-farbigen Stigmatisierung der Häftlinge folgen zu dürfen, zum anderen ist er nicht davor gefeit, die unwürdige Nazisprache zu übernehmen. Nicht nur einmal finden sich Sätze, die die in vielen Konzentrationslagern von den Kommunisten geführten Häftlingsselbstverwaltungen mit den Worten verteidigen, so seien sehr viele „wertvolle Menschen“ gerettet worden, auch wenn dies auf Kosten vieler „minderwertiger Elemente“ passiert sei.
DONNERSTAG, 10. FEBRUAR
Hosni Mubarak liest was vor im Fernsehen, weswegen die Quizshow, die ich mir gerade anschaue, unterbrochen wird; nicke weg und werde wieder wach mit Heinz Erhard: Es gibt Menschen, die wollen glänzen obwohl sie keinen Schimmer haben.
FREITAG, 11. FEBRUAR
Mittags Kartoffeln und Quark. Sonnenschein draußen. Beginne, Franziska Augsteins Semprun-Biographie Von Treue und Verrat zu lesen.
Verballhorne, mit gemischtgefühligem Vergnügen, Martin-Walser-Roman- und -Novellen-Titel: Ein fliegendes Pferd; Wehen in Regensburg; Jenseits der Triebe; Landung; Hase und Wolf; Jacht; Bushs Krieg; Der zersprungene Brunnen (Ein springender Punkt); Lob eines Kritikers; Ein liegender Mann...
SONNABEND, 12. FEBRUAR
Binsenwahrheit des Tages.
Meinungen sind immer falsch; einzig Haltungen können richtig sein.
SONNTAG, 13. FEBRUAR
Lese weiter Augsteins Semprun-Biographie; im Radio schweift Wulf Kirsten immer wieder ab, kommt nicht auf den Punkt; dann 45 Minuten Stéphane Hessel auf arte: sehr eloquenter, gebildeter Philanthrop; im Abendprogramm die Großnichte Wilhelm Furtwänglers, Maria heißt sie, in einem Knoppaganda-Zweiteiler: O wie schrecklich, diese Vertriebenenschicksale. Zum Abschluss des Fernsehabends Titel Thesen Temperamente. Der Facebook-Gründer Marc Zuckerberg auf die Frage, warum ihm alle ihre Daten schenkten: Sie vertrauen mir, die Idioten.
Durchaus lausiger Tag.
Die Schweinedialektik Stalins (und seiner Jünger) oder Ernst Busse in der Zwickmühle.
Der KZ-Überlebende: ein Mitschuldiger; der in Gefangenschaft geratene Rotarmist: ein Deserteur; die gemeine Schlussfolgerung: das Gedenken gilt allein den Buchenwald-Opfern, nicht den Häftlingen, die überlebten.
Cora Stephan in der FAS: Will, folgte man ihrer kranken Argumentation, die CDU verbieten. (Das ist, so verkürzt, nicht verständlich, aber ich bringe es im Leben nicht übers Herz und übern Kopp, zusammenzufassen, was die Frau im Interview soeben verzapft hat). Glaubt mir, Genossen! Und glaubt mir auch, dass es mir lieber wäre, sie, die FAS (resp. FAZ), begnügte sich (statt sich derart zu blamieren) mit ihren drei (Säulen)heiligen: Schmitt, Heidegger und Jünger; denn wenn’s noch doller wird, tut’s einfach zu sehr weh.
Leider noch viel ärger der Ärger über HHH (Hans Heinz Holz). Der zählt, als einer der hoffentlich letzten Menschen-„Elemente“ (Kogon), Stalin, den „verdienten Mörder des Volkes“ (Brecht), welcher es ja immerhin geschafft hat, mehr Kommunisten zu erledigen als Hitler, zu der vor 150 Jahren begonnen habenden Aufklärerlinie, deren Beginn Marx und Lenin wiesen. Das ist nichts anderes als zum Kotzen und man möchte dem alten Mann seinen Beitrag am liebsten um die altersgemäß immer größer werdenden Ohren schlagen, und zwar schallend.
Was wirklich schwer zu begreifen ist, ist die Idee der revolutionären Rolle des Proletariats. Wenigstens Marx, Engels und Lenin wussten doch, dass die Existenz des Proletariats an die Existenz des Kapitalismus gebunden ist, d.h.: Ohne Kapitalismus keine Proletarier.
MONTAG, 14. FEBRUAR
Wollte man die wichtigen Begriffe retten, müsste man sagen, dass es bislang weder einen Kommunismus noch eine Sozialismus gegeben hat auf dieser Welt, die so schön sein könnte. Das spricht, glaube ich, weniger gegen Marx, Engels und Lenin, als gegen die Umstände. Sind die Umstände noch nicht reif, bekommen wir wahlweise einen Stalinismus (Sowjetunion, Ostblock), eine Baath-Diktatur (Saddam Hussein), einen langbärtigen Despoten auf einer einsamen Karibikinsel (Fidel Castro), einen Militärparadenspinner (Kim Il Sung), trottelige Anarchisten (Spanien), einen Pol-Pot (Kambodscha) oder einen Hitler (Nazi-Deutschland) vorgesetzt.
Was tun?
Ich zu V.: „Das mit dem Lesen ist so, dass ich selten ein Buch für gut genug befinde, um es von vorn bis hinten zu lesen. Ich lasse einfach die langweiligen Stellen aus. So brauche ich für ein 300-Seiten-Buch selten mehr als drei Stunden, also einen Abend. Im Vergleich: Für die richtig guten Bücher brauche ich Jahre, also für Schernikaus legende zum Beispiel, oder Hacksens Maßgaben der Kunst. Da muss man, um sich nicht um den Spaß zu betrügen, erst alles drei mal gelesen haben, bevor man bei der Viertlektüre den spitzen Bleistift ansetzen darf.“ Vs. scharfsinnige Antwort: „ich werde das vor mir liegende jahr nutzen, um tatsächlich schernikaus legende zu lesen, für das man, wie man hört, zwei jahre braucht.“
Missverständnis des Tages.
Frage: Wofür kämpfst du? Antwort: Gegen Nazis.
DIENSTAG, 15. FEBRUAR
Zu CR: „Im Grunde hast du Recht, und im Grunde beneide ich dich auch darum. Weil du nämlich weißt, dass die Liebe eine idiotische Erfindung ist, gegen die man anzugehen hat. Ich glaube, das war auch der Grund, warum ich mich in dich verliebt habe. Klingt paradox, ist aber so.“
Wiglaf Droste über die sechstgrößte Stadt Deutschlands: „Wieso eigentlich Stuttgart 21? Der VfB hat doch gerademal 19 Punkte.“ Auch Folgendes in der morgigen Zeitung gefunden: „Nach den Revolutionen in Tunesien und Ägypten wäre jetzt der Westen dran – und versagt schändlich, Guttenberg spricht vom »infektiösen Momentum«. Er hat Brecht: »Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?«“ Zweimal sehr laut gelacht.
MITTWOCH, 16. FEBRUAR
Über Macher-Menschen: pralle, kraftstrotzende Lebensenergie – aber wie für die Katz das alles!
FREITAG, 18. FEBRUAR
In Plüschgewittern.
Nach den ersten 76 Seiten: Habe Vs. Worten über diesen kleinen, hinreißenden Edelstein des Herrn Herrndorf nichts hinzuzufügen. Außer: Von wegen „Mängelexemplar“.
Anruf von M. am Abend aus schlechtem Gewissen (und aus dem gutem (Ge)wissen, kein schlechtes Gewissen haben zu müssen; komme ja, wie er besser als jeder andere weiß, als verlässlicher Reisebegleiter zur Zeit nicht in Frage).
SONNTAG, 20. FEBRUAR
Um elf S. mit dem Auto. Nichts Großartiges unternommen, aber das ist ja das Großartige, heute jedenfalls.
Hamburg-Wahl, die SPD mit absoluter Mehrheit. Höre Grass in seinen viel zu vollen Oberlippenbart brabbeln: „Da wird sie sich bestimmt freuen!“
MONTAG, 21. FEBRUAR
Weiter Herrndorf. In der Mitte des schmalen Buches eine bestürzend einleuchtende Idee Herrndorfs: Man könne, wenn man wolle, im Zentrum Berlins beginnend, eine Zeitreise an die Ostperipherie der Stadt unternehmen, also von Berlin Mitte (21. Jahrhundert) über Friedrichshain (90er Jahre), Lichtenberg (80er Jahre) nach Marzahn (70er Jahre). Würde man noch weiter östlich ziehen, was niemals zu empfehlen sei, dann käme man im Faschismus an.
Halb sieben mit Th. im C-Keller. Dort bedient der dünne junge Mann von schon mal, heute ganz in schwarz, bei dessen Anblick ich mich jedes Mal frage, woran es liegt, dass mir diese selbstbewusst betonte Dünnheit heutzutage so imponiert, während sie mir früher, als ich selbst so dünn war... Beim vierten Bier dreht Th. richtig gut auf, erzählt von einem Restaurationsausflug nach Tschechien, die Mutter seines Sohnes, damals hochschwanger, kam ihn besuchen (oder abholen?), aber er es war bereits zu spät und Th. schon schwul geworden, wenn ich das richtig verstanden habe (bin ja auch schon beim vierten Bier, oder genauer: ich bin schon fertig mit dem vierten Bier). Zuvor beklagt er sich über seinen Kollegen B., welcher am Wochenende mit Familie zu Besuch und Schweinebraten bei ihm war, und als Th. erzählt, dass die Bagage vor dem Essen betete, frage ich ihn beinahe entsetzt: die kennen wohl das hochvernünftige Prinzip der Trennung von Kirche und Küche nicht?
DIENSTAG, 22. FEBRUAR
Sitze in einem der bequemen schwarzen Sessel im Foyer der schönsten Bibliothek meiner Welt und lese in Fritz J(ott) Raddatz’ Tagebüchern (1982 – 2001). Mir schräg gegenüber sitzt der schönste Junge der Bibliothek: schwarze Anziehsachen, schwarze Tolle, leicht affektierter, grübelnde Ernsthaftigkeit vortäuschen wollender Lippenwurf (sollte man nicht besser von einem Lippenschurz sprechen?) und liest sehr konzentriert 1 ½ Stunden in einem blassgelben S.-Fischer-Taschenbuch, also bestimmt Stefan Zweig, was die naheliegendste Erklärung für seine immer finsterer werdende Miene wäre.
Klarer Kopf I.
Halbwegs klaren Kopfes: Nichts wirklich Erfahrenswertes erfahre ich in Raddatz’ eitlen Notizen (habe ja vorher auch Rühmkorfs eitles Tagebuch gelesen, welches jedoch nicht nur eitel war, sondern auch von Sprachwitz überquoll). Immerhin erfahre ich, dass er schwul ist, der Raddatz. Das wusst’ ich bislang noch nicht. Abgesehen davon auf den knapp tausend Seiten das ganze Elend der intellektuellen Schreiber-„Elite“ der Bundesrepublik (wenn es einem um die Kunst geht, MUSS man zum Gegner der (parlamentarischen) Mehrheits- also Durchschnittlichkeitsdemokratie werden!) und des Alterns als Schwuler in selbstverliebt-melancholischen Worten (dass das Ganze so weitergehen wird, wie es auf den ersten hundert Seiten begann, ist durchaus keine sehr kühne These). Am lehrreichsten für mich sind die pornographischen Passagen. Am unterhaltsamsten ist die Amsterdam-Anekdote. Eines Abends habe ihn in einer dortigen Schwulenbar ein Russe angebaggert, er glaubte nicht, dass es sich um einen Russen gehandelt habe, wie auch immer, die beiden landeten in dessen aristokratischer Hotelsuite, Raddatz ergötzte sich an der Makellosigkeit seines Körpers; ihm schwante immer noch nichts. Am nächsten Abend saß er im Theater und sah den Russen tanzen: es war NUREJEW. Der Unterschied zu den Aufzeichnungen Rühmkorfs (neben dem entscheidenden Unterschied, dass Rühmkorf vergleichsweise witzig-leicht, während Raddatz eher selbstgerecht-seicht daherkommt): Was Rühmkorf Garnelenschwänze und Muschis, sind Raddatz Austern und Riesenpimmel.
Im Grunde ist Raddatz ein armer, reicher Dekadent, ein Hedonist ohne Haltung, einer zudem, der von seinem Schmarotzertum nichts weiß (oder nichts wissen will). Wenn er denn doch mal so alle hundert Seiten (also alle zwei Jahre) ins reflektierende Nachdenken kommt, so schreibt er, er habe gelesen, dass 97 Prozent der Menschen kein selbstbestimmtes Leben führen könnten (oder mal konkreter, dass irgendein Manager 350 Millionen Dollar im Jahr kassiere, während eine Milliarde Menschen mit weniger als EINEM täglichen Dollar auskommen müssten) und dass viele Schriftsteller zu arm seien, zu ihren eigenen Lesungen zu fahren, und jeden dieser Gedanken beendet er mit einem: Aber ich habe mir das alles (drei Häuser, einen Jaguar (vorher einen Porsche), die Meissener Porzellanvasen und die zigtausend Liter Champagner) doch hart erarbeitet. Auf deutsch: Der Literaturkritiker Raddatz, dessen Reichtum ohne die vorherige Arbeit der Literaten nicht vorstellbar wäre, lobt seine Wirtsleute als faule Schweine. Und so was gilt in diesem Land als „links“: sehr witzig im Grunde.
Klarer Kopf II.
Was bei der „Doktor“-zu-Guttenberg-Affäre rauskommen wird, ist, was jeder, der bei halbwegs klarem Verstand ist, schon längst wusste: dass der akademische Kram Firlefanz und Kokolores und am Ende ein womöglich gar weniger hilfreicher als vielmehr schädlicher Fimmel ist.
Klarer Kopf III.
Die Maischberger mit Gästen im Fernsehn über Guttenbergs Mogelarbeit. Mit dabei: (1) der sich immer mehr zu einem hitzköpfig-giftenden Rumpelstilzchen verzwergende Arnulf Baring (eine gar nicht so unsympathische Art zu verschwinden im Übrigen), er stolpert naturgemäß bei seinem Versuch, sowohl vorwärts als auch rückwärts zu laufen, also zu Guttenbergs als auch der Universitäten Ehre retten zu wollen; (2) der Kabarettist Werner Schneyder (schreibt man ihn so und heißt er wirklich Werner? oder Wolfgang?), er wird immer wieder unterbrochen, weil er als einziger was wirklich Kluges sagen will, nämlich dass entscheidender als die Doktortiteldebatte eine Debatte über die ganzen vielen toten Soldaten wäre; (3) Anna Prinzessin von Bayern, sie lässt sich wirklich so nennen und ist BILD-Redakteurin, glaube ich, jedenfalls ist sie Autorin einer Lobhudelbiographie über den Schummelbaron, und sie ist mal wieder überfordert aufgrund ihrer besonders blonden Blödheit; Den schönsten Satz der Sendung darf (4) mein Lieblingskotzbrocken Jutta Ditfurth sagen, die ja, bei aller Verschwörungsverrücktheit, auch ab und an mal klaren Kopfes ist: „Heute sind die Wähler der Grünen schlimmer als die Grünen.“
MITTWOCH, 23. FEBRUAR
Seit drei Tagen Eiseskälte. Minus 15 Grad in der Nacht.
Erinnere mich am Morgen an den gemeinen Emailwechsel mit dem Waldorflehrer, von dem ich vor Jahren (da war ich noch von und bei I. gefangen) bei Ebay die Victor-Klemperer-Tagebücher kaufte. Der beschwerte sich doch damals allen Ernstes über das geringe Endgebot, mit dem ich die Auktion gewann; dafür hätte sich der ganze Aufwand nicht gelohnt, und er wolle mehr Geld. Sauer war er, denke ich heute, weil es ihm verwehrt blieb, aus den Notizen eines knapp dem Tode entronnenen jüdischen Intellektuellen Profit zu schlagen. Was für ein Pack, diese Waldörfler! (Und wie krank mein Denken).
Lese weiter Raddatz; während ich lese, fällt mir auf (die Lektüre ist beileibe nicht so fesselnd, dass man nicht abschweifen und sich umschauen könnte), dass in letzter Zeit immer wieder junge Männer in schlecht riechenden Jogginghosen lauernden Auges durch die Bibliothek streunen. Als warteten sie auf den günstigen Augenblick, Beute zu machen, zuzuschlagen, sprich: Schrankschlüssel, Geldbörsen oder wenigstens die vergessenen 1-Euro-Stücken aus den Garderobenschränken zu stehlen. Noch gemeiner die zwei dicken Lehramtsanwärter in der Cafeteria vorhin (ein Männchen und ein Weibchen), welche, ihr Gemurmel auf den Punkt gebracht, davon schwärmten, „Unterschichtskinder“ in Schulen einsperren und sie dort, damit sie ihre Dummheit nicht weitervererben könnten, kastrieren lassen zu wollen. Selten große Sehnsucht nach Margot Honecker! Lust auf ein Attentat!
DONNERSTAG, 24. FEBRUAR
Der Gedanke Theodor Lessings und Marianne Gronemeyers, das Verstehenwollen als Vernichtungswillen zu deuten, ist im Übrigen genau so absurd wie er einleuchtend ist.
Binsenweisheit des Tages.
Der Zündfunke der hoffentlich bald die ganze Welt erhellenden Aufklärung erglomm (sagt man das so?) in Arabien (auch wenn dies schon einige 100 Jahre her ist).
FREITAG, 25. FEBRUAR
„Der geistreiche Mann spielte gern mit seinen Meinungen, aber niemals mit seinen Gesinnungen.“ (Goethe über Wieland)
SONNABEND, 26. FEBRUAR
Im Radio (mdr info): Ein Mann habe sich vor einem Moskauer Kaufhaus in die Luft gesprengt. Der Mann sei dabei ums Leben gekommen. Wer hätte das gedacht!
SONNTAG, 27. FEBRUAR
Richtigstellung des Tages.
Wie jeder weiß, kommt man nach dem Leben dorthin, wo man hinkommen will (wohin man kommen will?). Die meisten wollen in den Himmel (kommen), dort wird es ziemlich eng werden. Weitaus behaglicher dürfte es darum in der Hölle zugehen. Der Himmel ist die Hölle (und andersrum).
Stand heute: Das Phantom mit dem Hund hat die Chance, die ich hatte, verspielt.
MONTAG, 28. FEBRUAR
Mich, als ich aufwache, sowohl an meinen Traum als auch an einen (Traum)-Satz Eugen Kogons erinnert. Beides hätte ich notiert, wenn ich’s nicht beinahe sofort wieder vergessen hätte – auf dem kurzen Weg vom Bett ins Bad.
Fritz J. Raddatz’ Tagebücher. Mein sich immer mehr verfestigender Eindruck: die eigenen Notizen hundertmal lesenswerter, die Vs. tausendmal mehr... Hat der Mann nicht eine Sekunde geliebt in den zwanzig Jahren (zwischen seinem 50. und 70.)? Hat er nicht einen einzigen politischen (oder wenigstens philosophischen) Gedanken gehegt in jener Zeit? Und falls nein, warum hat er DAS nicht notiert???
Verderbe mir den Abend durch das Anschauen eines Fußballspiels im Fernsehn. Aue verliert, nach hochverdienter 1:0-Führung, mit 1:2 in Augsburg (und damit wohl auch alle schüchternen Aufstiegshoffnungen).
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