Freitag, 11. März 2011

Kapitel 2

MITTWOCH, 2. FEBRUAR

Jedem das Seine (Platon) oder Wie auch immer (Semprun).
Der Buchenwald ist leicht verschneit und eisigkalt. Es ist kurz nach halb zwölf, die Sonne verschwindet hinter trüben Wolken. Wir lauschen den Worten unserer Führerin.
Sie spricht von den Bluthunden der SS, die nicht wenige der am Bahnhof Buchenwald ankommenden Häftlinge, die den Karachoweg im Laufschritt entlangzulaufen hatten, „in Stücke rissen“, so dass alle Ankömmlinge, die diese Szenen mitzuerleben hatten, wussten, was ihnen bevorstehen werde; sie spricht von der Blutstraße, die Hunderte Häftlinge das Leben kostete, nicht nur denjenigen, die sie, meist mit bloßer Hand, zu erbauen, sondern auch denjenigen, die sie tagein-tagaus zu benutzen hatten auf dem Weg zur Arbeit im Steinbruch oder im Rüstungswerk (und auf dem Weg von dort zurück ins Lager, immer ein Lied auf den Lippen habend, so war es Vorschrift); sie erzählt von der Ausbildungsstätte der SS-Totenkopfeinheiten, geformt von jungen Männern, die einen mindestens hundertjährigen arischen Stammbaum nachweisen konnten, wenigstens 1,72 m groß waren (1,80 m, schreibt Kogon) und vorzugsweise aus verarmten, asozialen Verhältnissen stammten (hier treffen sich beide wieder, unsere Führerin und der ehemalige Häftling); sie spricht von den Foltermethoden im Bunker, der sich links des Lagertores befand und in welchem nicht nur Paul Schneider „ums Leben kam“; sie erklärt uns, dass, wenn die Weimarer es gewollt hätten, sie alles hätten wissen können über die Lebensbedingungen im Lager (und also auch alles wussten); sie erwähnt die farbigen Dreiecke, die alle Häftlinge auf ihre Hemden zu nähen hatten und durch die sie, für alle, nicht nur für die Aufseher, sondern auch für die Mithäftlinge, jederzeit sichtbar kategorisierbar wurden, was eine zwangsläufige Hierarchie unter den Häftlingen nach sich zog, eine Hierarchie, von der auch Semprun schrieb und an deren Spitze die deutschen Kommunisten standen, während am anderen Ende die Kriminellen, Homosexuellen und Juden auf noch viel wackligeren Füßen standen; sie sagt, dass das Lager zwischen 1945 und 1950 von den sowjetischen Besatzern weitergeführt wurde, so, wie es unter den Siegermächten vertraglich vereinbart worden war (auch die Amerikaner, Briten und Franzosen unterhielten Lager), sie verschweigt aber auch nicht, dass sich unter den Gefangenen, die zum großen Teil aus Nazi-Kriegsverbrechern bestanden, auch politische Gefangene befanden (ca. 20 Prozent).
Auf dem zwei Hektar großen Appellplatz, der sich zwischen dem Lagertor mit der Inschrift, die nicht nur Goethe, sagt Semprun, bei seinen regelmäßigen Spaziergängen mit Eckermann ins Philosophieren gerieten ließ, und der Goethe-Eiche, welche beim Angriff US-amerikanischer Bomber auf die neben dem Lager gelegenen Gustloff-Werke im August 1944 zerstört wurde, sich zu erstrecken begann, erfahren wir vom Schicksal der letzten Häftlinge in den letzten Tagen des KZs. Diese wurden, die Kapazität des Lagers war restlos erschöpft, in fensterlosen, mobilen Pferdeställen „untergebracht“, welche sich hangabwärts nördlich der Baracken befanden, an der Stelle etwa, wo die Häftlinge bei klarem Wetter einem vorzüglichen Ausblick über das Thüringer Becken bis hin zum Harz ausgesetzt waren. In den für 60 Pferde bemessenen Ställen waren zwischen 1600 und 2000 Häftlinge eingepfercht, vieretagig übereinanderliegend. Die kräftigsten Häftlinge lagen oben (dort befanden sich Lüftungsschlitze) und die sich bereits im Sterben befindlichen ganz unten. Weil es nicht genug Liegeplätze gab, ein Liegeplatz aber überlebenswichtig war, verließen diejenigen Häftlinge, die einen solchen erkämpft hatten, diesen nicht einmal zur Verrichtung der Notdurft.
Plötzlich wird der Wind stärker, und mir ist so kalt, dass ich mir wünsche, mich etwas aufwärmen zu können an den Öfen der berühmten Firma Topf & Söhne im Krematorium. Das wünsche ich mir wirklich, und mir wird klar, wie schnell es geht, schon unter leicht widrigen Umständen zu perversen Gedanken verführt zu werden. (Aber was heißt hier Verführung: ich denke diesen Gedanken und niemand hat mich zu diesem „verführt“). Vielleicht ist es zum Wenigsten das (dass die Umstände das Denken beeinflussen), was man hier, an diesem Ort, lernen soll? Dann denke ich, schlotternd und abermals beschämt über diesen nächsten Gedanken, dass die nationalsozialistische Herrenmenschenideologie durchaus ein Spiegelbild der Idee der Juden war, ein auserwähltes Volk zu sein. Das ist natürlich ein höchst ekelhafter Gedanke, aber auch Jorge Semprun war durchaus ungerecht, als er in seinem Roman schrieb, die KZs der Nazis seien Zerrspiegelbilder der stalinistischen Gulags gewesen (ebd., S. 412). Auserwähltheitsphantasien führen, denke ich weiter, ganz egal, ob sie erfolgreich umgesetzt werden oder hoffentlich verpuffen, in den Untergang, was man nicht zuletzt am Schicksal der sich einst ebenso auserwählt wähnenden Proletarierklasse sehen kann. Und ich erinnere mich an jenes (fiktive) Gespräch zwischen Goethe und Eckermann vor dem Lagertor, von dem Semprun erzählt und in welchem Goethe zu der weisen Ansicht gelangte, dass die Epoche des Internationalismus, auch beinahe hundert Jahre nach dem Kommunistischen Manifest, noch immer nicht gekommen sei. Was ihm, Goethe, lange vor vielen anderen, klar gewesen sei, war, dass jemand, der wie Stalin glaubte, es könne einen Sozialismus in einem Land geben, sich nicht nur von der Idee des Kommunismus verabschiedet, sondern einer wie auch immer gearteten Form eines Nationalsozialismus das Wort spricht.
Ich will unsere Führerin fragen, wer denn nun, was die Angst der Juden vor den Russen betraf, Recht gehabt habe, Jorge Semprun, der in der eindringlichsten Szene seines Buchs von den Juden aus Tschenstochau berichtet, welche, nachdem sie von ihren SS-deutschen Aufpassern endlich allein und in Ruhe gelassen wurden im Lager, diesen hinterherliefen und sich freiwillig (als hätten sie, falls es so etwas überhaupt gibt, nach all der Qual noch einen freien Willen haben können) nach Buchenwald deportieren ließen, weil sie sich sicher waren, dass die Russen, die vor den Toren des Lagers standen, sie noch mehr hassten als es die Deutschen taten (S. 280 ff.), oder ob es nicht doch Jurek Becker war, welcher in seinem Roman Jakob der Lügner die Bewohner eines polnischen Judenghettos auf die Ankunft der Roten Armee hoffen lässt. Und ich will sie fragen, ob es stimmt, dass aus den Lautsprechern, die auf den Wachtürmen installiert waren, immer und immer wieder Musik von Zarah Leander erklang (als ob dies eine richtige und keine falsche Frage wäre), aber ich bekomme den Mund nicht auf wegen der Kälte, und kurz darauf, in dem kantinenartigen Museumscafé, bei einer halbvollen Tasse überteuerten Automatenmilchkaffees, frage ich T., ob die Verbrechen der Katholischen Kirche nicht zehn mal grausamer waren als diejenigen Hitlers und Stalins zusammen (oder fragte ich ihn erst, als wir wieder zu Hause waren und vor dem lodernden Kamin saßen). Und jetzt, wo ich dies notiere, erinnere ich mich an den Satz eines bekannten Hamburger Sozialdemokraten (von Dohnanyi), den dieser vor ein paar Wochen in einer Talkshow des öffentlich-rechtlichen Fernsehens vom Stapel ließ (wie man in Hamburg so sagt). Er meinte (sinngemäß), es sei schon recht gewesen, die Luxemburg zu erledigen, so sei Deutschland eine Frau Stalina erspart geblieben.
Zuvor erleben wir, kurz vor dem Ende der Führung, in der nachgestellten Genickschussanlage einen kleinen Disput zwischen der Führerin unserer Gruppe und dem Führer einer Schulklassengruppe. Die beiden scheinen sich nicht abgesprochen zu haben, was die Führungszeiten angeht, oder einer von beiden hat sich nicht an die Abmachung gehalten. Dabei hätten die beiden viel eher Grund gehabt, darüber zu streiten, woran es liegt, dass eine Mordanlage, die zur Tötung ausschließlich sowjetischer Kriegsgefangener ab einem bestimmten Dienstgrad diente, in jedem Detail ihrer Grausamkeit vorgestellt werden kann, die Mordanlage jedoch, die das Konzentrationslager für eine Mehrzahl der Insassen darstellte, seltsam nichtmateriell bleibt. Hätte man nicht wenigstens den Galgen, der auf dem Appellplatz stand, stehen lassen können?
Es gab, berichtet Semprun in seinem Roman, auch Russen im Lager, Kriegsgefangene, die aufgrund ihres geringeren Dienstgrades nicht sofort hingerichtet wurden. Diese Russen, schreibt Semprun, waren es, die, was kaum einer verstand und weswegen mancher glaubte, sie seien verrückt, beim ersten zarten Frühlingshauch zu verduften versuchten. Das hätten sie, schreibt Semprun, auf Solschenyzin und Schalamow verweisend, nicht nur in Buchenwald versucht, sondern überall wo man sie gefangen hielt. Und dies, obwohl (oder gerade weil?) sie sich der Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens bewusst waren. Einmal sei es passiert, dass ein junger Russe mit lautem Indianergeheul auf den Lippen (als ob er sicher gehen wollte, auch wirklich entdeckt und ordnungsgemäß abgeknallt zu werden) in Richtung des Buchenwalder Stacheldrahtzaunes rannte.

Mein Besuch der Gedenkstätte endet in der Nacht auf dem Fernsehkanal des Mitteldeutschen Rundfunks. Dort wundert sich der amerikanische Entnazifizierungsmajor, er wird gespielt von Harvey Keitel, wie es bloß sein könne, dass der Superdirigent Wilhelm Furtwängler, welchen er zu verhören hatte, einerseits behaupte, ganz vielen Juden geholfen zu haben, das Land zu verlassen und sie somit vor der Deportation gerettet zu haben, andererseits aber von nichts gewusst haben wolle. Dieser Film, Der Fall Furtwängler, ist im Übrigen ein noch üblerer Klitterschinken als Eichingers Der Untergang mit Bruno Ganz – spätestens am Ende wird das klar, als Major Arnold einsehen muss, dass Furtwängler kein anderes Argument für seine Unschuld anzuführen gelingt, als das, zu etwas Höherem berufen, mit anderen Worten, ein Herrenmensch zu sein. Der Gipfel des Spektakels ist, dass des Majors Mitarbeiter, ein deutscher Exiljude, mittlerweile Lieutenant bei der British Army, und eine junge deutsche Sekretärin im Laufe des Films und ganz unverhohlen ins Lager der sentimental-brutalen Nazikindheitserinnerungsverklärung wechseln: vor den (sichtbaren, reellen?) Bildern von Bulldozern, die zerschundene Leiber vor sich her und in Massengräber schieben, schließen sie die Augen, nicht aber vor den (inneren, auf ewige tausend Jahre gespeicherten) Bildern, die die Ehrerbietungen des Dirigenten seinem Führer gegenüber zeigen.


FREITAG, 4. FEBRUAR

Hole S. im Fürstenhaus ab. Die Lehmstedt sehr unzufrieden: andere Kinder würden viel schneller lernen, bis Dienstag sei dies und das zu können, sonst werde sie das Alles-andere-als-ein-Wunderkind nicht mehr unterrichten. S. am Boden zerstört, weint, als wir das Zimmer verlassen. Gehe mit ihr, wie versprochen, in den Spielzeugladen in der Schützengasse und kaufe ihr zwei Haflinger-Schleich-Pferde (jetzt hat sie also ihre zwei Pferde, und es sind Pferde und nicht nur Ponys!).


SONNABEND, 5. FEBRUAR

Im Radio erst eine enervierende Sing-Sang-Inge-Keller in Hacksens Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe und dann eine dreistündige lange Nacht über den zeitlebens krachschlagenden „Theatermacher“ Thomas Bernhard.

Frage des Tages.
Die Vielfalt des Westens, sein Begehr, für jedermanns Abwechslung zu sorgen, dies lässt mich heute fragen, ob auch derjenige Abwechslung braucht, der liebt? Oder anders gefragt: Untergräbt der Westen die Möglichkeit zu lieben?


SONNTAG, 6. FEBRUAR

Unwort des Tages.
Schuldkult (Bezeichnung für das Bedürfnis der Deutschen, die Stätten der Verbrechen ihrer Vorfahren aufzusuchen).

Worte an einen Krummdenkenden.
Die Begründung, den Besuch der Gedenkstätte Buchenwald abzulehnen, da man ganz gut ohne diesen Schuldkult (siehe oben) leben könne, kann im Grunde, denkt man genau so krumm, ganz leicht entkräftet werden. Denn was man dort, auf dem Gelände der Gedenkstätte Buchenwald, geboten bekommt, ist deutsche Ingenieurskunst auf der Höhe der Zeit, auf der Höhe aller Zeiten, also das ganze Gegenteil von Kult, nämlich Kultur, und zwar, im Gegensatz zur klassischen deutschen Goethe-Schiller-Herder-Wieland-Kultur, klassische deutsche Industriekultur. Nirgendwo auf der Welt gab es robustere, sicherere und leistungsfähigere Verbrennungsöfen als im Konzentrationslager Buchenwald (und im von der Deutschen Bank finanzierten Konzentrationslager Auschwitz).
Zehnfaches, im Vergleich zu den Öfen, die in Treblinka zum Einsatz kamen, leisteten die Mehrkammermuffelöfen, die, einem „Wunderwerk“ gleich, von den Ingenieuren der Erfurter Ofenbaufirma Topf & Söhne in die Welt oberhalb Weimars und östlich der erst später zu einiger Berühmtheit kommen sollenden Oder-Neisse-Grenze gesetzt wurden. Nicht nur die auf Schienen geführte Leicheneinschiebekonstruktion hatte man sorgfältig optimiert: Obwohl kein Sarg in die Öfen gepasst hätte (dazu wäre die Ofenöffnung zu klein gewesen), konnten bis zu drei Leichen gleichzeitig eingeschoben werden. Von dem zu erwartenden Verbrennungsgewicht der Häftlinge, welches, wie den Ingenieuren nicht unverborgen geblieben sein dürfte, zwischen 25 und 41 Kilogramm betrug, hatten sie auf den für den Bau der Öfen und ihrer Öffnungen wichtigen Körperumfang geschlossen. Oberingenieur Kurt Prüfer und seine Untergebenen hatten sich naturgemäß nicht verrechnet. Seinen Stolz nicht verbergen wollend und könnend, meldete der unter Prüfer arbeitende Ingenieur Fritz Sander 1942 ein Patent an für einen „kontinuierlich arbeitenden Leichen-Verbrennungsofen für Massenbetrieb.“
Was ich eigentlich sagen will, ist, dass der Begriff Schuldkult von vorn bis hinten falsch ist; weder die erste noch die zweite Silbe stimmen. Im Übrigen scheint mir das Wort nicht mehr als ein rhetorischer Kniff zu sein, der lediglich bezwecken soll, die Zuverlässigkeit von Reflexen (meiner Reflexe) zu testen.

Lese mal wieder ein paar Seiten in Henscheids Literaturkritik-Brocken von Zweitausendeins, und es ist ja wirklich so, dass mindestens neunzig Prozent dessen, was da zu lesen ist, uninteressant genug war, um es noch einmal zu veröffentlichen. Ein wuchernder Metastasenherd.

Auf CD die Lange Nacht über Thomas Bernhard: Der ganze Bernhard ein übertreibend-wiederholdend-komisches Plädoyer gegen nationalsozialistische Katholiken, katholische Nationalsozialisten und auch, wie könnte es anders sein, gegen sozialdemokratische Nationalsozialisten und nationalsozialistische Sozialdemokraten. Die nach wie vor naturgemäß unbeantwortete Frage: wofür plädierte Bernhard?


MONTAG, 7. FEBRUAR

Die FAZ, heute, nach meiner kleinen Email, im richtigen Briefkasten, ehrt Ulrich Peltzer, der sich nicht wehren kann, als Adoranten von Foucault und Deleuze.

Frage des Tages.
Wie kann ein Kritiker mein Feind sein? (vgl. Peter Hacks, Das Arboretum)


DIENSTAG, 8. FEBRUAR

Binsenweisheit des Tages I.
Krieg ist der Terror der Reichen.

Empört euch!
Kaufe und lese Stéphane Hessels Empört euch! (übersetzt von Michael (?) Kogon, dem Sohn von Eugen Kogon). Der Autor, dessen schmales Büchlein, welches man in zwanzig Minuten gelesen hat, in Frankreich für Furore sorgt, war, wie Jorge Semprun, in dessen Buch Was für ein schöner Sonntag Hessel auch namentlich Erwähnung fand, Häftling im Konzentrationslager Buchenwald. Hessel entwickelte sich jedoch nicht, wie Semprun, zu einem Anti-Hegelianer, sondern hält es auch heute noch mit dem großen deutschen Philosophen. (Zur Erinnerung: Semprun nahm Hegel, dem er die Wiederbelebung der „Teufelsmethode Dialektik“ vorwarf, in seinem Buch auch dafür in Haftung, die Grundlage des totalitären SS-Staates geliefert zu haben, was am deutlichsten beim allmorgendlichen und allabendlichen Appell zum Ausdruck gekommen sei, wenn der SS-Appellmann „Das Ganze stillgestanden!“ schrie.) Von derlei Verbiegungen ist Hessel frei, und er ist auch zu loben dafür, dass er Sartre auf den Stand der Zeit bringt, indem er dessen Terrorismusapologie eine Gewaltlosigkeitsillusion entgegensetzt. Gegen die Lethargie, gegen den Irrglauben, die zur Zeit durchaus bedrohte Demokratie nicht mit allen Mitteln verteidigen zu müssen, schrieb Hessel sein aufrüttelndes Pamphlet.

Binsenweisheit des Tages II.
Terror ist eine Erscheinungsform von Verzweiflung.

Benedikt XVI.
1940, im besetzten Polen, hetzen Hitlerjungen einen jungen Polen durch die Straßen. Als sie seiner endlich habhaft geworden sind, schlagen und treten sie ihn. Plötzlich bittet der junge Mann seine Peiniger, in gebrochenem Deutsch, von ihm abzulassen: „So hört doch auf, ich werde bald Papst sein.“ Worauf ihm derjenige der Hitlerjungen, der am heftigsten zugelangt hat, mit bayerischem Akzent entgegnet: „Und ich werde dein Nachfolger sein.“ (erzählt von Wiglaf Droste)


MITTWOCH, 9. FEBRUAR

Eugen Kogon: Der SS-Staat.
Den Verdienst der von den Amerikanern in Auftrag gegebenen Auftragsarbeit nicht in Abrede stellen wollend: Aber wenn ich lesen muss, wie weit der Scheißnazieinfluss sich niederschlägt in den Worten eines ganz bestimmt standhaft-integren Menschen, dann komme auch ich nicht weiter als bis zur Hälfte dieser akribischen Studie. Das Gemeine ist, dass man Kogon im Grunde nichts vorwerfen kann; vorwerfen jedoch muss man all den Leuten, die diesen ganzen KZ-Wahnsinn nicht miterleben mussten, dass sie viele Jahre später meinten, dieses Buch als das empfehlen zu dürfen, was es nicht ist, weil es es nicht sein konnte. Es sei denn, man meinte, sie wollten, so indirekt, wie nur möglich, hinweisen auf die Perfidität der Naziherrschaft. Allein, mir fehlt, empfehlt die ZEIT-Gräfin Dönhoff dieses Buch, der Glaube. Was ich sagen will: Zum einen unterliegt der Autor der gemeinen Verlockung, der (von der SS eingeführten?) dreieckig-farbigen Stigmatisierung der Häftlinge folgen zu dürfen, zum anderen ist er nicht davor gefeit, die unwürdige Nazisprache zu übernehmen. Nicht nur einmal finden sich Sätze, die die in vielen Konzentrationslagern von den Kommunisten geführten Häftlingsselbstverwaltungen mit den Worten verteidigen, so seien sehr viele „wertvolle Menschen“ gerettet worden, auch wenn dies auf Kosten vieler „minderwertiger Elemente“ passiert sei.


DONNERSTAG, 10. FEBRUAR

Hosni Mubarak liest was vor im Fernsehen, weswegen die Quizshow, die ich mir gerade anschaue, unterbrochen wird; nicke weg und werde wieder wach mit Heinz Erhard: Es gibt Menschen, die wollen glänzen obwohl sie keinen Schimmer haben.


FREITAG, 11. FEBRUAR

Mittags Kartoffeln und Quark. Sonnenschein draußen. Beginne, Franziska Augsteins Semprun-Biographie Von Treue und Verrat zu lesen.

Verballhorne, mit gemischtgefühligem Vergnügen, Martin-Walser-Roman- und -Novellen-Titel: Ein fliegendes Pferd; Wehen in Regensburg; Jenseits der Triebe; Landung; Hase und Wolf; Jacht; Bushs Krieg; Der zersprungene Brunnen (Ein springender Punkt); Lob eines Kritikers; Ein liegender Mann...


SONNABEND, 12. FEBRUAR

Binsenwahrheit des Tages.
Meinungen sind immer falsch; einzig Haltungen können richtig sein.


SONNTAG, 13. FEBRUAR

Lese weiter Augsteins Semprun-Biographie; im Radio schweift Wulf Kirsten immer wieder ab, kommt nicht auf den Punkt; dann 45 Minuten Stéphane Hessel auf arte: sehr eloquenter, gebildeter Philanthrop; im Abendprogramm die Großnichte Wilhelm Furtwänglers, Maria heißt sie, in einem Knoppaganda-Zweiteiler: O wie schrecklich, diese Vertriebenenschicksale. Zum Abschluss des Fernsehabends Titel Thesen Temperamente. Der Facebook-Gründer Marc Zuckerberg auf die Frage, warum ihm alle ihre Daten schenkten: Sie vertrauen mir, die Idioten.
Durchaus lausiger Tag.

Die Schweinedialektik Stalins (und seiner Jünger) oder Ernst Busse in der Zwickmühle.
Der KZ-Überlebende: ein Mitschuldiger; der in Gefangenschaft geratene Rotarmist: ein Deserteur; die gemeine Schlussfolgerung: das Gedenken gilt allein den Buchenwald-Opfern, nicht den Häftlingen, die überlebten.

Cora Stephan in der FAS: Will, folgte man ihrer kranken Argumentation, die CDU verbieten. (Das ist, so verkürzt, nicht verständlich, aber ich bringe es im Leben nicht übers Herz und übern Kopp, zusammenzufassen, was die Frau im Interview soeben verzapft hat). Glaubt mir, Genossen! Und glaubt mir auch, dass es mir lieber wäre, sie, die FAS (resp. FAZ), begnügte sich (statt sich derart zu blamieren) mit ihren drei (Säulen)heiligen: Schmitt, Heidegger und Jünger; denn wenn’s noch doller wird, tut’s einfach zu sehr weh.

Leider noch viel ärger der Ärger über HHH (Hans Heinz Holz). Der zählt, als einer der hoffentlich letzten Menschen-„Elemente“ (Kogon), Stalin, den „verdienten Mörder des Volkes“ (Brecht), welcher es ja immerhin geschafft hat, mehr Kommunisten zu erledigen als Hitler, zu der vor 150 Jahren begonnen habenden Aufklärerlinie, deren Beginn Marx und Lenin wiesen. Das ist nichts anderes als zum Kotzen und man möchte dem alten Mann seinen Beitrag am liebsten um die altersgemäß immer größer werdenden Ohren schlagen, und zwar schallend.

Was wirklich schwer zu begreifen ist, ist die Idee der revolutionären Rolle des Proletariats. Wenigstens Marx, Engels und Lenin wussten doch, dass die Existenz des Proletariats an die Existenz des Kapitalismus gebunden ist, d.h.: Ohne Kapitalismus keine Proletarier.


MONTAG, 14. FEBRUAR

Wollte man die wichtigen Begriffe retten, müsste man sagen, dass es bislang weder einen Kommunismus noch eine Sozialismus gegeben hat auf dieser Welt, die so schön sein könnte. Das spricht, glaube ich, weniger gegen Marx, Engels und Lenin, als gegen die Umstände. Sind die Umstände noch nicht reif, bekommen wir wahlweise einen Stalinismus (Sowjetunion, Ostblock), eine Baath-Diktatur (Saddam Hussein), einen langbärtigen Despoten auf einer einsamen Karibikinsel (Fidel Castro), einen Militärparadenspinner (Kim Il Sung), trottelige Anarchisten (Spanien), einen Pol-Pot (Kambodscha) oder einen Hitler (Nazi-Deutschland) vorgesetzt.
Was tun?

Ich zu V.: „Das mit dem Lesen ist so, dass ich selten ein Buch für gut genug befinde, um es von vorn bis hinten zu lesen. Ich lasse einfach die langweiligen Stellen aus. So brauche ich für ein 300-Seiten-Buch selten mehr als drei Stunden, also einen Abend. Im Vergleich: Für die richtig guten Bücher brauche ich Jahre, also für Schernikaus legende zum Beispiel, oder Hacksens Maßgaben der Kunst. Da muss man, um sich nicht um den Spaß zu betrügen, erst alles drei mal gelesen haben, bevor man bei der Viertlektüre den spitzen Bleistift ansetzen darf.“ Vs. scharfsinnige Antwort: „ich werde das vor mir liegende jahr nutzen, um tatsächlich schernikaus legende zu lesen, für das man, wie man hört, zwei jahre braucht.“

Missverständnis des Tages.
Frage: Wofür kämpfst du? Antwort: Gegen Nazis.


DIENSTAG, 15. FEBRUAR

Zu CR: „Im Grunde hast du Recht, und im Grunde beneide ich dich auch darum. Weil du nämlich weißt, dass die Liebe eine idiotische Erfindung ist, gegen die man anzugehen hat. Ich glaube, das war auch der Grund, warum ich mich in dich verliebt habe. Klingt paradox, ist aber so.“

Wiglaf Droste über die sechstgrößte Stadt Deutschlands: „Wieso eigentlich Stuttgart 21? Der VfB hat doch gerademal 19 Punkte.“ Auch Folgendes in der morgigen Zeitung gefunden: „Nach den Revolutionen in Tunesien und Ägypten wäre jetzt der Westen dran – und versagt schändlich, Guttenberg spricht vom »infektiösen Momentum«. Er hat Brecht: »Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?«“ Zweimal sehr laut gelacht.


MITTWOCH, 16. FEBRUAR

Über Macher-Menschen: pralle, kraftstrotzende Lebensenergie – aber wie für die Katz das alles!


FREITAG, 18. FEBRUAR

In Plüschgewittern.
Nach den ersten 76 Seiten: Habe Vs. Worten über diesen kleinen, hinreißenden Edelstein des Herrn Herrndorf nichts hinzuzufügen. Außer: Von wegen „Mängelexemplar“.

Anruf von M. am Abend aus schlechtem Gewissen (und aus dem gutem (Ge)wissen, kein schlechtes Gewissen haben zu müssen; komme ja, wie er besser als jeder andere weiß, als verlässlicher Reisebegleiter zur Zeit nicht in Frage).


SONNTAG, 20. FEBRUAR

Um elf S. mit dem Auto. Nichts Großartiges unternommen, aber das ist ja das Großartige, heute jedenfalls.

Hamburg-Wahl, die SPD mit absoluter Mehrheit. Höre Grass in seinen viel zu vollen Oberlippenbart brabbeln: „Da wird sie sich bestimmt freuen!“


MONTAG, 21. FEBRUAR

Weiter Herrndorf. In der Mitte des schmalen Buches eine bestürzend einleuchtende Idee Herrndorfs: Man könne, wenn man wolle, im Zentrum Berlins beginnend, eine Zeitreise an die Ostperipherie der Stadt unternehmen, also von Berlin Mitte (21. Jahrhundert) über Friedrichshain (90er Jahre), Lichtenberg (80er Jahre) nach Marzahn (70er Jahre). Würde man noch weiter östlich ziehen, was niemals zu empfehlen sei, dann käme man im Faschismus an.

Halb sieben mit Th. im C-Keller. Dort bedient der dünne junge Mann von schon mal, heute ganz in schwarz, bei dessen Anblick ich mich jedes Mal frage, woran es liegt, dass mir diese selbstbewusst betonte Dünnheit heutzutage so imponiert, während sie mir früher, als ich selbst so dünn war... Beim vierten Bier dreht Th. richtig gut auf, erzählt von einem Restaurationsausflug nach Tschechien, die Mutter seines Sohnes, damals hochschwanger, kam ihn besuchen (oder abholen?), aber er es war bereits zu spät und Th. schon schwul geworden, wenn ich das richtig verstanden habe (bin ja auch schon beim vierten Bier, oder genauer: ich bin schon fertig mit dem vierten Bier). Zuvor beklagt er sich über seinen Kollegen B., welcher am Wochenende mit Familie zu Besuch und Schweinebraten bei ihm war, und als Th. erzählt, dass die Bagage vor dem Essen betete, frage ich ihn beinahe entsetzt: die kennen wohl das hochvernünftige Prinzip der Trennung von Kirche und Küche nicht?


DIENSTAG, 22. FEBRUAR

Sitze in einem der bequemen schwarzen Sessel im Foyer der schönsten Bibliothek meiner Welt und lese in Fritz J(ott) Raddatz’ Tagebüchern (1982 – 2001). Mir schräg gegenüber sitzt der schönste Junge der Bibliothek: schwarze Anziehsachen, schwarze Tolle, leicht affektierter, grübelnde Ernsthaftigkeit vortäuschen wollender Lippenwurf (sollte man nicht besser von einem Lippenschurz sprechen?) und liest sehr konzentriert 1 ½ Stunden in einem blassgelben S.-Fischer-Taschenbuch, also bestimmt Stefan Zweig, was die naheliegendste Erklärung für seine immer finsterer werdende Miene wäre.

Klarer Kopf I.
Halbwegs klaren Kopfes: Nichts wirklich Erfahrenswertes erfahre ich in Raddatz’ eitlen Notizen (habe ja vorher auch Rühmkorfs eitles Tagebuch gelesen, welches jedoch nicht nur eitel war, sondern auch von Sprachwitz überquoll). Immerhin erfahre ich, dass er schwul ist, der Raddatz. Das wusst’ ich bislang noch nicht. Abgesehen davon auf den knapp tausend Seiten das ganze Elend der intellektuellen Schreiber-„Elite“ der Bundesrepublik (wenn es einem um die Kunst geht, MUSS man zum Gegner der (parlamentarischen) Mehrheits- also Durchschnittlichkeitsdemokratie werden!) und des Alterns als Schwuler in selbstverliebt-melancholischen Worten (dass das Ganze so weitergehen wird, wie es auf den ersten hundert Seiten begann, ist durchaus keine sehr kühne These). Am lehrreichsten für mich sind die pornographischen Passagen. Am unterhaltsamsten ist die Amsterdam-Anekdote. Eines Abends habe ihn in einer dortigen Schwulenbar ein Russe angebaggert, er glaubte nicht, dass es sich um einen Russen gehandelt habe, wie auch immer, die beiden landeten in dessen aristokratischer Hotelsuite, Raddatz ergötzte sich an der Makellosigkeit seines Körpers; ihm schwante immer noch nichts. Am nächsten Abend saß er im Theater und sah den Russen tanzen: es war NUREJEW. Der Unterschied zu den Aufzeichnungen Rühmkorfs (neben dem entscheidenden Unterschied, dass Rühmkorf vergleichsweise witzig-leicht, während Raddatz eher selbstgerecht-seicht daherkommt): Was Rühmkorf Garnelenschwänze und Muschis, sind Raddatz Austern und Riesenpimmel.
Im Grunde ist Raddatz ein armer, reicher Dekadent, ein Hedonist ohne Haltung, einer zudem, der von seinem Schmarotzertum nichts weiß (oder nichts wissen will). Wenn er denn doch mal so alle hundert Seiten (also alle zwei Jahre) ins reflektierende Nachdenken kommt, so schreibt er, er habe gelesen, dass 97 Prozent der Menschen kein selbstbestimmtes Leben führen könnten (oder mal konkreter, dass irgendein Manager 350 Millionen Dollar im Jahr kassiere, während eine Milliarde Menschen mit weniger als EINEM täglichen Dollar auskommen müssten) und dass viele Schriftsteller zu arm seien, zu ihren eigenen Lesungen zu fahren, und jeden dieser Gedanken beendet er mit einem: Aber ich habe mir das alles (drei Häuser, einen Jaguar (vorher einen Porsche), die Meissener Porzellanvasen und die zigtausend Liter Champagner) doch hart erarbeitet. Auf deutsch: Der Literaturkritiker Raddatz, dessen Reichtum ohne die vorherige Arbeit der Literaten nicht vorstellbar wäre, lobt seine Wirtsleute als faule Schweine. Und so was gilt in diesem Land als „links“: sehr witzig im Grunde.

Klarer Kopf II.
Was bei der „Doktor“-zu-Guttenberg-Affäre rauskommen wird, ist, was jeder, der bei halbwegs klarem Verstand ist, schon längst wusste: dass der akademische Kram Firlefanz und Kokolores und am Ende ein womöglich gar weniger hilfreicher als vielmehr schädlicher Fimmel ist.

Klarer Kopf III.
Die Maischberger mit Gästen im Fernsehn über Guttenbergs Mogelarbeit. Mit dabei: (1) der sich immer mehr zu einem hitzköpfig-giftenden Rumpelstilzchen verzwergende Arnulf Baring (eine gar nicht so unsympathische Art zu verschwinden im Übrigen), er stolpert naturgemäß bei seinem Versuch, sowohl vorwärts als auch rückwärts zu laufen, also zu Guttenbergs als auch der Universitäten Ehre retten zu wollen; (2) der Kabarettist Werner Schneyder (schreibt man ihn so und heißt er wirklich Werner? oder Wolfgang?), er wird immer wieder unterbrochen, weil er als einziger was wirklich Kluges sagen will, nämlich dass entscheidender als die Doktortiteldebatte eine Debatte über die ganzen vielen toten Soldaten wäre; (3) Anna Prinzessin von Bayern, sie lässt sich wirklich so nennen und ist BILD-Redakteurin, glaube ich, jedenfalls ist sie Autorin einer Lobhudelbiographie über den Schummelbaron, und sie ist mal wieder überfordert aufgrund ihrer besonders blonden Blödheit; Den schönsten Satz der Sendung darf (4) mein Lieblingskotzbrocken Jutta Ditfurth sagen, die ja, bei aller Verschwörungsverrücktheit, auch ab und an mal klaren Kopfes ist: „Heute sind die Wähler der Grünen schlimmer als die Grünen.“


MITTWOCH, 23. FEBRUAR

Seit drei Tagen Eiseskälte. Minus 15 Grad in der Nacht.

Erinnere mich am Morgen an den gemeinen Emailwechsel mit dem Waldorflehrer, von dem ich vor Jahren (da war ich noch von und bei I. gefangen) bei Ebay die Victor-Klemperer-Tagebücher kaufte. Der beschwerte sich doch damals allen Ernstes über das geringe Endgebot, mit dem ich die Auktion gewann; dafür hätte sich der ganze Aufwand nicht gelohnt, und er wolle mehr Geld. Sauer war er, denke ich heute, weil es ihm verwehrt blieb, aus den Notizen eines knapp dem Tode entronnenen jüdischen Intellektuellen Profit zu schlagen. Was für ein Pack, diese Waldörfler! (Und wie krank mein Denken).

Lese weiter Raddatz; während ich lese, fällt mir auf (die Lektüre ist beileibe nicht so fesselnd, dass man nicht abschweifen und sich umschauen könnte), dass in letzter Zeit immer wieder junge Männer in schlecht riechenden Jogginghosen lauernden Auges durch die Bibliothek streunen. Als warteten sie auf den günstigen Augenblick, Beute zu machen, zuzuschlagen, sprich: Schrankschlüssel, Geldbörsen oder wenigstens die vergessenen 1-Euro-Stücken aus den Garderobenschränken zu stehlen. Noch gemeiner die zwei dicken Lehramtsanwärter in der Cafeteria vorhin (ein Männchen und ein Weibchen), welche, ihr Gemurmel auf den Punkt gebracht, davon schwärmten, „Unterschichtskinder“ in Schulen einsperren und sie dort, damit sie ihre Dummheit nicht weitervererben könnten, kastrieren lassen zu wollen. Selten große Sehnsucht nach Margot Honecker! Lust auf ein Attentat!


DONNERSTAG, 24. FEBRUAR

Der Gedanke Theodor Lessings und Marianne Gronemeyers, das Verstehenwollen als Vernichtungswillen zu deuten, ist im Übrigen genau so absurd wie er einleuchtend ist.

Binsenweisheit des Tages.
Der Zündfunke der hoffentlich bald die ganze Welt erhellenden Aufklärung erglomm (sagt man das so?) in Arabien (auch wenn dies schon einige 100 Jahre her ist).


FREITAG, 25. FEBRUAR

„Der geistreiche Mann spielte gern mit seinen Meinungen, aber niemals mit seinen Gesinnungen.“ (Goethe über Wieland)


SONNABEND, 26. FEBRUAR

Im Radio (mdr info): Ein Mann habe sich vor einem Moskauer Kaufhaus in die Luft gesprengt. Der Mann sei dabei ums Leben gekommen. Wer hätte das gedacht!


SONNTAG, 27. FEBRUAR

Richtigstellung des Tages.
Wie jeder weiß, kommt man nach dem Leben dorthin, wo man hinkommen will (wohin man kommen will?). Die meisten wollen in den Himmel (kommen), dort wird es ziemlich eng werden. Weitaus behaglicher dürfte es darum in der Hölle zugehen. Der Himmel ist die Hölle (und andersrum).

Stand heute: Das Phantom mit dem Hund hat die Chance, die ich hatte, verspielt.


MONTAG, 28. FEBRUAR

Mich, als ich aufwache, sowohl an meinen Traum als auch an einen (Traum)-Satz Eugen Kogons erinnert. Beides hätte ich notiert, wenn ich’s nicht beinahe sofort wieder vergessen hätte – auf dem kurzen Weg vom Bett ins Bad.

Fritz J. Raddatz’ Tagebücher. Mein sich immer mehr verfestigender Eindruck: die eigenen Notizen hundertmal lesenswerter, die Vs. tausendmal mehr... Hat der Mann nicht eine Sekunde geliebt in den zwanzig Jahren (zwischen seinem 50. und 70.)? Hat er nicht einen einzigen politischen (oder wenigstens philosophischen) Gedanken gehegt in jener Zeit? Und falls nein, warum hat er DAS nicht notiert???

Verderbe mir den Abend durch das Anschauen eines Fußballspiels im Fernsehn. Aue verliert, nach hochverdienter 1:0-Führung, mit 1:2 in Augsburg (und damit wohl auch alle schüchternen Aufstiegshoffnungen).

Kapitel 1

Sonnabend, 1. Januar

Dresden.
...Feuerwerk. Es ist wie im Februar ’45, nur dass diesmal die Bomben von unten nach oben fliegen. Auf dem Rückweg, den die Eltern des großen, lauten Kindes – entgegen einer kurz zuvor getroffenen Verabredung – mit dem Bus zurücklegen, macht das Kind den Eltern eine Szene. Besser kann ein Jahr nicht beginnen.

Feiern noch mit Speedfolkpolka und blutrünstiger Neoromantikmugge bei den Nachbarn. Halb 5 im Bett.

Weimar.
Was das treffen von guten Vorsätzen angeht, so möchte ich dem äußerst weisen Vorsatz, keine guten Vorsätze fürs neue Jahr zu treffen, einen anderen weisen hinzufügen. Er ist von Tolstoi, hätte aber auch von Hacks sein können: „Der wahre Weise ist immer heiter.“


Sonntag, 2. Januar

Binsenweisheit des Tages.
„Wie verkehrt muss doch eine Weltordnung sein, in der Reiche, die von der Arbeit der Armen leben, die von den Armen mit einem Dach über dem Kopf, mit Nahrung, mit Kleidung versorgt werden, glauben können, sie seien die Wohltäter der Armen!“ (Leo Tolstoi)

MB erzählt von früher: „Sind Sie für den Sozialismus?“ – „Ja.“ „Sind Sie für den Frieden?“ – „Ja.“ „Sind Sie der Meinung, dass Sozialismus und Frieden verteidigt werden müssen?“ – „Ja.“ „Dann unterschreiben Sie hier.“ – „Nein.“ „In diesem Fall empfehle ich Ihnen, einen Ausreiseantrag zu stellen.“


Montag, 3. Januar

Arbeitsteilung.
„Es ist richtig, dass Reichtum die Akkumulation von Arbeit ist; nur ist es dabei gewöhnlich so, dass der eine arbeitet und der andere akkumuliert. Und das wird dann von klugen Leuten Arbeitsteilung genannt.“ (aus dem Englischen)


Dienstag, 4. Januar

Was Guido Westerwelle meint, wenn er von Freiheit singt.
„Einen Menschen mitten in den Atlantischen Ozean zu werfen und ihm zu sagen, es stehe ihm frei, ans Ufer zu gelangen, wäre keine größere Verhöhnung seiner Person, als ihn in eine Gegend zu schicken, deren Grund und Boden völlig in privaten Händen ist, und ihm dabei zu sagen, er sei ein freier Mensch und könne frei seiner Arbeit und seinem Verdienst nachgehen.“ (Henry George)


Mittwoch, 5. Januar

Persische Weisheit des Tages.
„Glaube nicht, dass die Tapferkeit des Menschen nur in Mut und Kraft bestünde: Die größte Tapferkeit besteht darin, seinen Zorn zu bezwingen und dem Beleidiger zu verzeihen.“

Binsenweisheit des Tages I.
Was wirklich krank macht, ist, stets und ständig gefragt zu werden, wie es einem gehe, ob man gesund sei.

Binsenweisheit des Tages II.
Wo man wirklich weghören darf, nein muss, ist, wenn einer von etwas faselt, das sich ausschließt, zum Beispiel von sentimentalen Kommunisten.

Binsenweisheit des Tages III.
„Wollten die Menschen, statt die Welt zu retten, sich selbst retten, statt die Menschheit zu befreien, sich selber befreien – wie viel würden sie da zur Rettung der Welt und zur Befreiung der Menschheit beitragen.“ (Alexander Herzen)

Zwei Gedanken.
Der eine Gedanke, er ist von Zizek, geht, weitergedacht, so: Das Proletariat hat sich nicht aufgelöst, es ist nur nicht mehr sichtbar; es feilt, näht, schraubt und klebt in China, Bangladesh und Vietnam. Wir wüssten dies, schauten wir auf die Etikette, die auf und in unseren Spielzeugen, DVD-Recordern und Tieschörts kleben. Dieses Proletariat jedoch, das hat die Geschichte gezeigt, kann sich nur selbst befreien. Der andere Gedanke, er ist von Dath, geht, weitergedacht, so: Das Proletariat hat seine menschliche Hülle abgestreift und sich in Maschinen verwandelt. In diesem Falle hätte die anständige Maxime der Kommunistischen Internationale, das Proletariat zu befreien, durchaus und gerade heute ihren Sinn: Befreit die Maschinen, damit sie euch dienen!

Lese, in einem Ritt, Rayk Wielands ebenso schmales wie geistreiches Büchlein Ich schlage vor, dass wir uns küssen.

Einsichtiges Plädoyer gegen Einsichtnahme.
Wielands Roman ist, wenn man so will, wie ich es will, ein Plädoyer für die einsichtige Weigerung, Einsicht in die eigene Stasiakte zu nehmen und dem inneren und äußeren Frieden den Vortritt zu lassen. Die nach Gauck oder der Birthler oder wem auch immer benannte Stasiunterlagenbehörde erscheint in diesem hellen Wieland-Licht als nichts anderes als das, was sie womöglich ist: die letzte Rache der Stasi: „Die ganze DDR-Opposition war nicht viel mehr als eine Erfindung der Stasi.“ (ebd., S. 107)

Na starowje!
„Alles zum Wohle des Volkes!“, dachte sich die Parteiführung und sorgte dafür, dass wenigstens der Schnaps nie zur Neige ging in den volkseigenen Kaufhallen. (Auf die gemeine Dialektik, die hinter Spruch und Versorgungslage steckt, weist, obwohl er die DDR noch gar nicht kennen konnte, bereits Leo Tolstoi hin: „Dass die Regierung sich verpflichtet, Alkohol zu liefern, der Leib und Seele des Menschen zerrüttet und zugrunde richtet, beweist, wenn es denn keinen anderen Beweis gäbe, aufs Deutlichste, dass sich die Regierung nicht nur nicht, wie sie behauptet, um die Moral und das Wohl des Volkes kümmert, sondern ihm im Gegenteil eindeutig schadet, um sich selbst Gewinn zu verschaffen.“)

Plädoyer für Rasierklingen.
Wenn Karl Marx gewusst hätte, was er dank des von ihm ersonnenen dialektischen Materialismus eigentlich hätte wissen müssen (?), nämlich, dass weit nach seiner Zeit Menschen mit Bildern seines Bartes durch die breiten Straßen ihres Landes laufen werden, dann hätte er sich rasiert (nach Rayk Wieland).

Binsenweisheit des Tages.
„Lest die besten Bücher zuallererst, sonst kommt ihr überhaupt nicht dazu, sie zu lesen.“ (Henry David Thoreau)

Zur Aufregung um Gesine Lötzsch.
Das einzige, was dem Kommunismus vorzuwerfen wäre, ist, dass es ihn bislang noch nirgendwo auf der Welt gab.

Zur Aufregung um Gesine Lötzsch II.
Ausgehend davon, dass kein Mensch eine Ahnung davon hat, was Kommunismus ist und wie er sich anfühlt, möchte ich mal wieder auf eines meiner liebsten Themen zu sprechen kommen. Ich möchte festhalten, dass der aktuelle antikommunistische Beißreflex (siehe auch Wig­laf Droste: Schäferköterknurren), wie alles, was nur dagegen ist, Ausdruck größtmöglicher intellektueller und moralischer Verlottertheit ist. Das kleinere Übel an der Geschichte ist, dass man Kommunismus mit Stalinismus oder (real existierendem) Sozialismus gleichsetzt. Das ist ein Lapsus und gerade einmal der Frage wert, ob die These, in der DDR hätten, an ihrem Ende jedenfalls, Kommunisten geherrscht, überhaupt zu halten sei, wenn man endlich bereit ist, zuzugeben, dass Honecker, wenn er sprach, wie Heidegger geklungen habe. (Dank an Rayk Wieland, Ich schlage vor, dass wir uns küssen, S. 120)
Interessanter wird es, wenn man sich fragt, was die ganzen Leute gegen den Stalinismus, den sie Kommunismus nennen, haben. Sie haben aus vernünftig und anständig scheinenden Gründen gegen ihn, dass er so viele Opfer forderte. Konsequenterweise müssten die Leute jedoch, wollten sie wirklichen Anstand und wirkliche Vernunft zeigen, gegen ausnahmslos alle Gemeinheiten sein, die Menschen sich ausdachten und die unnötige Opfer forderten, also gegen den Faschismus, gegen den Katholizismus, gegen den Imperialismus. Und weil es noch viel mehr gibt, wogegen die ganzen Leute, wollten sie wirklich redlich sein, sein müssten, dürfte es ihnen eigentlich leichter fallen, darüber nachzudenken, wofür sie eigentlich sind. Und dann wären wir bei der schönsten aller Schernikau-Fragen.


Donnerstag, 6. Januar

Einsicht in die Unmöglichkeit.
Wer will, dass seine Worte keine Wirkung zeigen, braucht nur Unmögliches zu fordern: Sie müssen über ihren Schatten springen, sich ab jetzt selbst überholen... Oder anders: Wenn einem einer so etwas rät, dann ist das, als hätte er einem die Freiheit erteilt fürs Nichtstun aus Einsicht in die Unmöglichkeit.


Sonnabend, 8. Januar

Mit dem Bus in die Stadt zum Einkauf. Auf dem Weg dorthin kleiner Plausch mit L. Kämpft zusammen mit D. darum, dass das die Straße in Strömen herunterschießende Schmelzwasser nicht über den Bordstein schwappt. Der Bus kommt nicht über die Kipperquellenbrücke. Sie ist gesperrt wegen Hochwassers.

Binsenweisheit des Tages I.
Lenins „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ vom (stalinistischen) Kopf auf die (leninschen) Füße gestellt: Der Regierung zu vertrauen, schön und gut; besser jedoch ist, wenn das Volk sie kontrolliert.

Binsenweisheit des Tages II.
Wer richtig zu denken (also auch zuzuhören) vermag, der weiß, was von denen zu halten ist, die von früh bis spät die freiheitlich-demokra­ti­sche Grundunordnung preisen.


Sonntag, 9. Januar

Binsenweisheit des Tages.
Der einzige Nutzen, den die Homöopathie hat, ist der, dass man früher oder später von dem Irrglauben lässt, sie könne heilen.


Montag, 10. Januar

„Ich war immer erstaunt, dass Könige so leicht glauben können, sie bedeuteten alles, und dass das Volk so leicht glaubt, es bedeute nichts.“ (Michel de Montaigne)


Dienstag, 11. Januar

Paradoxie des Tages.
Was Zweitausendeins vor allem feilbietet, das sind Klassiker der Romantik.

Binsenweisheit des Tages.
„Mit Reichtümern ist es wie mit Mist: Sie stinken, wenn sie auf einem Haufen sind, während sie verstreut den Boden düngen.“ (Leo Tolstoi)


Mittwoch, 12. Januar

Meinungsfreiheit.
„Es gibt keinen schlechteren Führer durchs Leben als die menschliche Meinung.“ (La Bruyère)

Frage des Tages.
Wenn sich eine Zeitschrift wie der Spiegel Magazin nennt, weist das nicht darauf hin, dass sie ganz viel Munition auf Lager hat, mit der sie bei Bedarf herumschießen wird?

Die Vertreibung aus dem Serail.
Ein paar Zeilen aus einem Vortrag, welchen Georg Klauda vor gut einem Jahr über sein Buch Die Vertreibung aus dem Serail hielt (Ort der Aufführung unbekannt). Über die Homosexuellenfeindlichkeit muslimischer Einwanderer sagt er: „Sündenbock waren Muslime in der europäischen Geschichte schon immer, wenn es um Sex zwischen Männern ging, nur dass die Vorzeichen bis vor Kurzem noch ganz andere waren. Seit der Ära der Kreuzzüge wurden Moslems, damals noch als Sarazenen („Sarrazin ist ein französischer Familienname, der etymologisch auf die Sarazenen bzw. verwandte Begriffe zurückzuführen ist.“ (Quelle: Wikipedia)), mit den Attributen von Ausschweifung und widernatürlicher Sexualität belegt.“ Könnte es nicht sein, denke ich, dass wir über den nicht immer nur latenten Antisemitismus und die selten latente Frauen- und Homosexuellenfeindlichkeit der jugendlichen muslimischen Migranten einen Spiegel unserer eigenen Ressentiments, welche wir naturgemäß überwunden zu haben glauben, vorgehalten bekommen? Und ist es nicht so, dass das Abendland seine in der Antike entwickelte Toleranz, die Sexualität betreffend, für beinahe zweitausend Jahre, also fast so lange, wie es, das Abendland, besteht, vergaß? Und ist es nicht alles andere als verwunderlich, dass diese ganze schwul-lesbisch-bi-und-transsexuelle Toleranzwelle just zu einem Zeitpunkt zu wabbern begann, als das Kapital feststellte, zur Profitmaximierung nicht mehr auf den Geburtenreichtum des unter ihm feilenden, bohrenden und schraubenden Volkes angewiesen zu sein (also Ende der 1960er Jahre, als nach langer Pause mal wieder eine wirtschaftlichen Krise griente)?

Über Thilo Sarrazin.
Man kann Thilo Sarrazin ja für einiges loben: dass er, anders als die meisten Menschen, mit seiner (ostdeutschen) Herkunft und der Geschichte seiner (arabischen) Vorfahren nicht fertig wird, ohne sich an Unschuldigen auszulassen; dass er ängstlich ist und deshalb die Maske der Arroganz, als wäre er ein Pubertierender, benötigt; dass er seine ganzen schönen, niederträchtigen Gedanken nicht zu Ende denkt, weshalb sie stets auf dem Kopf stehen bleiben usw. Was aber fürwahr über allem steht: er ist Mitglied der SPD. Mit anderen Worten: Das Schlimme an der SPD ist nicht, dass sie Sarrazin als Mitglied duldet, das Schlimme an Sarrazin ist, dass er SPD-Mit­glied ist:

Sarrazin, im Koppe zappenduster,
Sarrazin, Tribun der Frust­aushuster.
(Wiglaf Droste)


Donnerstag, 13. Januar
In der Jungle World ein reizender Artikel von Ivo Bozic über die am vergangenen Wochenende stattgefunden habende Rosa-Luxemburg-Konferenz nebst Rosa-und-Karl-Gedenkumzug. Bozic zeigt sich derart hoch amüsiert über das, so sagt er sinngemäß, elende autoritätsfixierte lin­ke Demon­strantenhäuflein, welches er mit einigem Widerwillen beobachten musste, dass er seinen kleinen Aufsatz schließen lässt mit dem hübschen Gedanken, dass einer der geehrten, Karl Liebknecht, lebte er noch, den Umzug wegen Lächerlichmachung der Idee ganz bestimmt verboten hätte – kraft seiner Autorität, möchte ich hinzufügen und kriege große Lust, dem Bozic meinen warmen Dank zu übermitteln für seine schelmische Selbstanklage, aber das lässt die Internetseite der Jungle World nicht zu.

Mit Th. in der schönen Kneipe in der Lincoln-Stra­ße, dort, wo früher die Eisdiele meiner Kindheit war, dort, wo später I., als sie noch in der Mozartstraße, also gleich nebenan, wohnte, ihr Mittagessen einzunehmen pflegte, da sie schon damals nicht gern kochte und noch weniger gern abwusch, bevor sich abends die Skinheads zum Biertrinken und rauchen trafen. Jetzt ist von rechtem Pack nichts mehr zu sehen, auch den Londsdale-La­den gegenüber gibt es nicht mehr, aber geraucht werden darf. Man kann sagen, die Bewohner haben sich ihre Eckkneipe zurückerkämpft. Zwischendrin ruft I. an: S. sei krank, wahrscheinlich Magen-Darm-Grippe. Th. hingegen meint, S. wolle höchstwahrscheinlich nicht zum Jugend-musi­ziert-Vor­spiel morgen in Nordhausen, und sei deshalb krank geworden; ein Gedanke, der genau so einleuchtend wie sympathisch ist.


Freitag, 14. Januar

Herr X vom O2-Laden: ergaunert sich eine Provision für eine nichterbrachte Leistung, und als ob das nicht reichte, erteilt er, nachdem er erfahren hat, dass ich das, was ich wollte, erreicht habe – aber nicht etwa wegen der Verlängerung meines Internetvertrages, für die er die angesprochene Provision einstrich, sondern trotz dieser Verlängerung –, jedenfalls erteilt er mir Hausverbot, und ich bin den Rest des Tages ein wenig angefressen über diese Dreistigkeit.


Sonntag, 16. Januar

Working Class Heroes.
Ein Regal angeschraubt und dann das gestern Nacht aufgenommene Lennon-trifft-Eisler-Hörspiel angehört. Sehr amüsant, wie die beiden Protagonisten sich immer wieder missverstehen auf durchaus hochsympathische Art und Weise. Während Eisler die Vorzüge eines idealen Sozialismus preist und auf dieser Basis versucht, Lennon von einem Umzug in die DDR zu überzeugen, lehnt dieser, Ideal und Wirklichkeit vergleichend, ab und versucht im Gegenzug, seinerseits die Vorzüge eines idealen Liberalismus rühmend, Eisler zu einem Umzug nach London zu überreden, was auch dieser, indem auch er Ideal und Wirklichkeit gegenüberstellt, ablehnt. Ein ironischer, sehr komischer Dialog.


Montag, 17. Januar

Klassik.
In der Post Post von Dieter Kraft und Hans Heinz Holz: das neue Topos-Heft der deutsch-italienischen Freundschaft, es heißt bezeichnenderweise Klassik und wurde zu Ehren Peter Hacks’ gereicht. Sehr gute Artikel von Dieter Kraft (Der entkettete Knecht. Philosophische Perspektiven auf Brecht und Hacks und Hegel), Jürgen Kuttner (Peter Hacks: „Die Sorgen und die Macht“ – ein Interview), Heidi Urbahn de Jauregui (Peter Hacks: Klassik in sozialistischer Gegenwart), Felix Bartels (Selbst auf den Schultern der Gegner. Der Klassik-Begriff von Peter Hacks im Umriß), Dietmar Dath („Growing Nervous“: Lord Byrons antiromantische Romantik), Detlef Kannapin (Warum hat Peter Hacks Carl Schmitts „Politische Romantik“ ignoriert? Anmerkungen zum Romantik-Begriff von Hacks gelegentlich dreier Winke zu seiner politischen Großraumwirkung), Hans Heinz Holz (Kleist und Klassik) usw. Viel besser als der ARGOS. Im Übrigen belegt das giftgrüne Heftchen, dass es Felix Bartels ist, der es geschafft hat, eine Brücke zu bauen zwischen linkem und rechtem Hacks-Ufer.


Freitag, 21. Januar

Die Ästhetik des Widerstands oder Wut aus zweierlei Gründen.
Beendete gestern Abend das erste Buch der Ästhetik des Widerstands und entschied mich, um die verzückende Selbstquälerei – denn darum handelt es sich bei der Lektüre dieses warmherzig unterkühlten, aufweckend ermüdenden und letztlich besonnen wütend machenden Romanbrockens – in Grenzen zu halten, die beiden weiteren Bücher nicht zu lesen und stattdessen auf das – im Rahmen seiner berstenden Möglichkeiten – durchaus sehr gelungene Hörspiel von Karl Bruckmayer aus dem Jahr 2007 zurückzugreifen.
Peter Weiss’ Roman erteilt Lektionen. Das erfreut in den seltensten Fällen den Schüler und kaum weniger selten den Lehrer. Manchmal aber müssen Lektionen sein. Eine der Lektionen, die Peter Weiss erteilt (womöglich ist es die wichtigste), ist eine in Sachen deutscher Geschichte zwischen 1913 und 1945.
Was der Leser lernt (oder woran er, wenn er in der DDR zur Schule ging, nur erinnert zu werden braucht), ist, dass sozialdemokratische Politik nur funktioniert, wenn irgendwo in greifbarer Nähe auch sozialistische Politik betrieben wird. Fehlt diese, wie vor 1919 und seit 1990, kommt die Sozialdemokratie ganz durcheinander im Kopf und behauptet allen Ernstes gern so etwas Lustiges wie, dass die kapitalistische Ausbeutung nur mit den Mitteln, die die kapitalistische Ausbeutung erzeugen, bekämpft werden könne, weshalb der Kapitalismus zu perfektionieren, also von allem sozialstaatlichen Schnickschnack zu befreien sei. (Erinnert sei an den leider nur scheinbar dialektisch erscheinenden Agenda-2010-Vor­schlag Gerhard Schröders, jedermann und jedefrau solle sich zu einer Ich-AG (re)formen, also Kapitalist und Ausgebeuteter in einer Person werden, weshalb von Ausbeutung dann wohl nicht mehr die Rede sein könne.) Oder aber es kommt noch schlimmer und die Sozialdemokratie verliert ganz und gar den Kopf und plärrt für den Krieg, was man sehr schön studieren kann an der Zustimmung zu den Kriegskrediten für das Kaiserreich im Jahr 1914 („Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich“, Hugo Haase, SPD, August 1914), oder an der Zustimmung zum Krieg der Bundeswehr gegen Afghanistan („Es ist völlig klar, daß die SPD, aber auch die Union, die FDP und weite Teile der Grünen mit der klaren Unterstützung des Afghanistan-Ein­sat­zes gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung stehen. Dennoch bleibe ich dabei: Die Interessen Deutschlands werden auch am Hindukusch verteidigt“, Peter Struck, SPD, März 2008). Dass ein solch turbulentes Denken, wird es nicht durch vernünftige Nachbarn gebremst, Tradition hat in der Sozialdemokratie, kann man, wie gesagt, bei Peter Weiss nachlesen.
Was man auch nachlesen kann, ist, dass die Jahre 1913/14 mit der Entscheidung der SPD, für euphemistisch „Burgfrieden“ genannte Kriegslust, naturgemäß ungezügelten Patriotismus und selbstredend beinahe schrankenlose Kriegskredite bei ihrer eigenen Klientel, den Arbeitern, zu werben, die Weichen stellten für die beiden großen Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (den 1. und den 2. Weltkrieg) und in deren Folge für die etwas kleinere Katastrophe der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts (den sogenannten Kalten Krieg). Die damalige Entscheidung der SPD, den Internationalismus zu verraten und sich zu einer Art imperialistischer Nationalsozialdemokratie zu reformieren, hatte zunächst zwei erhebliche Konsequenzen. Zum einen die Abspaltung eines Teils der Arbeiterbewegung, die schließlich in der Gründung der KPD mündete und deren leidige Folgen bis heute zu spüren sind, und zum anderen bestätigte es alle nationalistischen, chauvinistischen und faschistischen Kräfte des Landes in ihrer Annahme, dass die Arbeiter doof genug seien, sich vor den Karren einer sich bald darauf in schleunigem Aufbau befindlichen nationalsozialisti­schen Bewegung spannen zu lassen.
Was einem auch bewusst wird bei der Lektüre und was man also jedem, der meint, auch heute noch gegen den Kommunismus in Deutschland zu Felde ziehen zu müssen, entgegenhalten darf, ist der Fakt, dass es seit dem Ende des 2. Weltkriegs dank des erfolgreichen Kampfes der Herren Ebert (SPD, vorzugsweise zwischen 1919 und 1925), Hitler (NSDAP, vorzugsweise zwischen 1933 und 1945) und Stalin (KPdSU, vorzugsweise zwischen 1936 und 1953) kaum noch Kommunisten gibt, jedenfalls kaum noch Kommunisten in Deutschland, und die paar, die nach dem 2. Weltkrieg übrig waren, wurden, wenn sie nicht schon im Westen des nun geteilten Landes waren, vom Osten in den Westen gejagt und dort 1956 verboten.
Soweit die traurige Geschichte der Kommunisten, zurück zum viel weniger traurigen Buch.
Wie der antifaschistische Widerstand gescheitert ist, ist auch Peter Weiss’ Versuch, diesem Scheitern ein künstlerisch angemessenes Denkmal zu setzen, missglückt – da ändern auch die ganzen vielen Kunstinterpretationen (Herakles auf dem Pergamonaltar, Picassos Guernica, Géricault, Goya, Kafkas Schloß, Delacroix...) oder die adleräugig-präzise Schau in Brechts Flüchtlingsköffer nichts. Wenn dieses Scheitern gewollt war vom Autor, dann bleiben nur zwei Deutungen: entweder sollte der Beweis angetreten werden, dass aller Widerstand unästhetisch (und darum abzulehnen?) sei, oder aber, dass auf alle Ästhetik verzichtet werden müsse, sobald man sich für den Widerstand entschieden hat. Womög­lich liegt die Erklärung seines Scheitern jedoch in der genau so simplen wie ernüchternden Erkenntnis, dass er scheitern musste, weil es, im Angesicht des unsäglichen Grauens, das zu schildern er sich vorgenommen hatte, buchstäblich kaum möglich war, Worte zu finden, ge­schweige denn diese wohl klingen zu lassen (was, wiederum, eine auch hier selbstredend ernüchternde Erklärung dafür sein könnte, dass die nationalsozialistische Vergangenheit weder in West- noch in Ost­deutschland aufgearbeitet wurde: Aufgearbeitet werden kann nur das, worüber man sprechen kann.) Der Vorwurf an den Autor, welcher seinerzeit häufig aus Richtung der bürgerlichen Feuilletons, der Neuen Frankfurter Schule und der dialektisch denkenden Marxisten zu hören war, seine sowohl farb- wie auch strukturlose Prosa verströme den monoton-öden Charme von Honeckers oder Heideggers Nuschelreden, falle also nicht nur hinter der Sprache Goethes und Fontanes zurück, sondern sei in etwa genau so kunstvoll wie des Kaisers neue Kleider, könnte also durchaus als Lob gelesen werden: Immerhin hat er Worte gefunden.
Auf jeden Fall und ohne Zweifel zu loben ist Peter Weiss dafür, dass er – durch seinen subtilen Verzicht auf Frohmut und Zuversicht – den Leser an die alte Weisheit gemahnt, dass der wahre Weise immer heiter zu sein habe (Leo Tolstoi), oder, mit den Worten von Peter Hacks: „Es gibt kein Recht auf Heiterkeitsverzicht!“ Hacks ist es auch, der den Leser daran erinnert, dass es, wenn es schon keine Ästhetik des (antifaschistischen) Widerstands geben kann, so doch eine Ästhetik, die auf dem gebietsweise sehr fruchtbaren Boden dieses am Ende – dank der Roten Armee – doch noch erfolgreichen Kampfes gedieh. Seine Maßgaben der Kunst, von denen die Rede ist, konnten schon aus biographischen Gründen (er wurde 1928 geboren) weitaus unbelasteter daherkommen als der misslungene Versuch von Peter Weiss (Jahrgang 1916). Hacks war selbstredend frei von jeglichen (Selbst)vorwür­fen, denen sich die älteren Generationen von Marxisten, Sozialisten und Kommunisten ausgesetzt sahen, weil sie das Wüten des faschistischen Mobs nicht verhindert hatten. (Was ästhetische Maßgaben angeht, soll auch auf Benjamin und Hegel wenigstens hingewiesen sein).
Neben dieser historischen-dialektischen Einordnung, welcher nur hinzuzufügen wäre, dass auch Hacksens ästhetischer Ansatz, nur eben später und auf höherer Stufe, gescheitert ist, ist es – für den Moment jedenfalls und wie Dietmar Dath es tat – durchaus legitim und gescheit, diese beiden für die deutsche Linke so wichtigen Künstler als unzertrennliche Gegenspieler zu betrachten: nämlich Hacks als Verabreicher des Zuckerbrots und Weiss als Schwinger der Peitsche.
Zwei Schlussbemerkungen: Das Hörspielkommissionskollektiv vom Bayerischen und Westdeutschen Rundfunk entschied sich, in der Einleitung zu jeder der zwölf Folgen verlautbaren zu lassen, sowohl Hörspiel als auch Roman handelten vom Scheitern sozialistischer Ideale. Das ist, versteht sich, eine Behauptung, die nicht nur Peter Weiss aus mindestens zwei Gründen im Grabe rotieren lassen dürfte. Zum einen ist es so, dass Ideale gar nicht scheitern, sondern allerhöchstens verblassen können, wohingegen der Versuch, ein Ideal zu verwirklichen, tatsächlich scheitern kann (wenn nicht gar muss – aber auch hier ist nur Platz, das ertragreiche Gefilde der von Peter Hacks gern so genannten „fröhlichen Resignation“, die vernünftigerweise in dem Wunsch mündet, beim nächsten Versuch besser zu scheitern, zu erwähnen), und zum andern war Weissens Buch ein Buch über das Scheitern des antifaschistischen Widerstandskampfes (im oben genannten und von Weiss durchaus zu Recht verstandenen Sinne). Dass dieser Widerstand, wie (un)ästhe­tisch er auch immer sein möge, auch heute nötig ist, nötiger vielleicht, als selbst Weiss es ahnte, dürfte die zweite Schlussbemerkung belegen: Weniger als Treppenwitz der Geschichte als als Höhepunkt, Verhärtung oder gar Steigerung der versöhnlichen Wut, welche die Lektüre des weiss’schen Romans bei bestimmt noch jedem Menschen mit einigermaßen Anstand und Vernunft hinterlassen dürfte, ist die Tatsache zu bewerten, dass der Laudator der Rede des dem Autor post(h)um, im Herbst 1982, angedienten Georg-Büchner-Preises ein ordnungsgemäßes NSDAP-Mitglied war.

Am Abend Anruf von M. Stiebert gehe es besser. Reden über Peter Weiss’ und Rayk Wielands Roman (auch in diesem eine schöne Kunstinterpretation). Später hege ich Gedanken, entweder Schernikaus legende oder aber Hacksens Maßgaben der Kunst laut zu lesen und aufzunehmen, zu welchem Behuf auch immer. Hauptsache, ein Mammutprojekt.


Sonntag, 23. Januar

S. um zehn abgeholt. Haare gewaschen. Mittagessen, Spiele, Kaffeetrinken, Spiele. Um sechs zurück. Auf der Rückfährt erzählt sie mir, sehr gelobt worden zu sein für die schönen Bilder aus Bunis Menschen-der-Urzeit-Buch, eins davon sei auch verwendet worden für die Wandzeitung, welche am Freitag zur Zeugnisübergabe vorgestellt werde, wozu ich herzlich eingeladen sei.


Montag, 24. Januar

Frage des Tages.
Wenn die Kanzlerin sagt, der auf den großem Moskauer Flughafen am Nachmittag des Tages stattgefunden habende Selbstmordanschlag sei feige gewesen, sagt sie dann nicht auch, dass es auch mutige Selbstmordanschläge geben könne?

Arbeit und Struktur.
Akademischer Titel, ungewöhnlich für einen Blog (ein Blog?). Ungewöhnlich auch der (das) Blog, er (es) wird bedient von Wolfgang Herrndorf, den Schriftsteller, auf den mich V. einst aufmerksam machte (In Plüschgewittern, ein schmaler Roman, welchen er mir liebenswürdigerweise schenkte und den ich dennoch nicht gelesen habe bislang), und auf welchen er nochmals Ende letzten Jahres hinwies mit dem Hinweis, es gebe im Moment keine großartigere, beeindruckendere Literatur als eben diesen (dieses) Blog des Autors.
Herrndorf weiß seit knapp einem Jahr, dass er an einem genau so seltenen wie gemeinen Hirntumor leidet, welcher ihn, aller Wahrscheinlichkeit nach, innerhalb eines Jahres sterben lassen werde. Heute Abend, es sind seit dem Hinweis mittlerweile mehr als vier Wochen vergangen, fühle ich mich endlich stark genug, mich den Zeilen zu widmen. Trotzdem reicht es nur zum Überfliegen.
Weise Einsichten. Dass es kein Leben gebe, weil ein Leben, das, im Vergleich zu zwölfeinhalb Milliarden Erdenjahren, nicht einmal die Dauer eines Furzes für sich in Anspruch nehmen darf, wohl nicht Leben genannt werden könne. Aber dennoch die Angst und der Wunsch, dem einen Jahr wenigsten noch dreißig weitere folgen zu lassen (die immer noch kürzer wären als der kürzeste aller erwähnenswerten Fürze). Aber wenigstens nicht die üble Schlingensief-Frage: Warum gerade ich? Im Gegenteil fragt Herrndorf: Wieso hätte es einen anderen treffen sollen, wenn es auch mich treffen konnte? Sowohl für den Leib als auch für die Seele (so es sie denn gibt) verheerend hingegen – das schildert Herrndorf sehr eindringlich – ist der Glaube (also Irrglaube), Google oder Wikipedia fragen zu können, wie lang man noch zu leben habe. Wobei nichts gegen die Möglichkeit, eine stimmige Selbstdiagnose zu erstellen, gesagt ist.
Nicht nur schreibt Herrndorf gegen seine Krankheit an (vor allem seinen Jugendroman Tschick), auch über (zeitgenössische) Literatur schreibt er. Kluge und bestimmt gerechte Gedanken über Tellkamps Roman Der Turm (und eine weitere Bestätigung, dieses Machwerk im Leben nicht anfassen zu sollen). Einmal ist er eingeladen zu einer Sommerparty, keiner (er)kennt ihn, aber er macht Herbert Grönemeyer, Herta Müller und Daniel Kehlmann aus. Mit letzteren unterhält er sich nicht (was ihn nur noch mehr für mich einnimmt), und über Kehlmann malt er das schöne Bild, dass, wenn es so etwas wie das Gegenteil von Aura gebe, Kehlmann davon umstrahlt sei. Auch verhehlt er nicht, welche Umwege er, als Kind nichtlesender Eltern, genommen hat: Alle, wirklich alle Romantiker musste er lesen, um endlich zu erkennen, dass die Romantik nicht nur krank ist, sondern auch krank macht...
Über den Besuch eines Konzerts von Jens Friebes erzählt Herrndorf kurz (Anfang Dezember letzten Jahres, draußen Schneegestöber, Herrndorf ist mit dem Rad unterwegs und genießt das Schlittern); die Episode erinnert mich sehr an Wolfgang Hilbig und dessen Bob-Dylan-Konzert-Besuch kurz vorm Tod des ersteren).

Was für ein schöner Sonntag (am Montag).
In der Nacht, im Bett liegend, begonnen, mich in Jorge Sempruns autobiographischen Roman Was für ein schöner Sonntag zu vertiefen. Was für ein verstörend-schöner Beginn, eine kurze Geschichte Weimars usw. (auf Seite 78 lege ich eine Pause ein und mich zur Seite).


Mittwoch, 26. Januar

Endlich wieder Fußball in der Halle: Was für ein schöner Mittwoch! Cottbus gewinnt derweil gegen Hoffenheim und zieht ins Pokalhalbfinale ein. Im Fernsehen dann Der Untergang.


Donnerstag, 27. Januar

Felix Bartels hat seinen schönen (sein schönes) Blog geschlossen. Am frühen Abend mit M. im ACC. Möhren-Apfel-Suppe (nach Rosenkohl und Sauerkrautauflauf (ein Wort mit vier au) in den Tagen zuvor), ne Tasse Kaffee. M. sagt, Stiebert gehe es besser, er sei jetzt in Bad Liebenstein in der Nähe von Schweina und Eisenach und doch fernab der Routen. Warte, nachdem sich M. verabschiedet hatte, nicht ohne mir zuvor eine Zigarette ausgegeben zu haben, im C-Keller auf den letzten Bus, den ich mir, wie weitere Fahrten in den nächsten sieben Tagen, gönne, anstatt einen Ausflug nach Jen-a zu Jen-s (Friebe) zu unternehmen, der womöglich wieder krank ist wie vor sechs Jahren, da war es auch Ende Januar, und selbst wenn er heute Abend aufträte, dann wohl so spät, dass ich ihn verpassen würde, wenn ich den letzten Zug nach Weimar nicht verpassen wollte. Während ich warte, lese ich den Semprun-Ro­man aus.
Es ist verraucht im C-Keller, irgendwer kifft, und es ist, als würde ich, mitrauchend, auch mitkiffen. Mein Magen immer noch nervös, aber nicht mehr so, wie die Wochen zuvor. Die Jungs am Nachbartisch sind zu jung, um bleiben zu dürfen im Raucherabteil der Kneipe. In der heutigen taz ein Interview mit dem britischen Filmemacher Mike Leigh: „Wir alle sind gerade dabei, aus der gemütlichen Enttäuschung, die New Labour darstellte und an die man sich gewöhnt hatte, aufzuwachen – und langsam steigt in uns allen tatsächlich Panik auf. Dann blickt man nach Amerika und findet dort eine Bewegung wie die Tea Party vor. Man muss leider befürchten, dass sich da ein weltweiter Trend zur sozialen Verantwortungslosigkeit, zu einer infantilen neuen Form des Faschismus abzeichnet. Das ist schon beängstigend. ... Premierminister David Cameron entmachtet unter dem Deckmantel einer perversen Vorstellung von ’Demokratie’ eine staatliche Einrichtung nach der anderen. Camerons Demokratieverständnis geht davon aus, dass etwas erst demokratisch sein kann, wenn es in Privatbesitz ist.“

Binsenweisheit des Tages.
Ohne den Menschen ist Gott nichts.