Sonntag, 29. Mai 2011

Kapitel 4

 

SONNABEND, 2. APRIL

Sonnentag am Baumhaus. Zwischendrin Einkauf. Kleiner Aufstand in der Rewe-Kaufhalle, weil die Bratwürste alle. Das Wesen des Thüringers offenbart sich an der Theke mit den Toten.

Aufgeschnappt: Die Kanzlerin vollführe, was ihre Atompilzpolitik angeht, gerade eine 360-Grad-Wende: die ersten 180 Grad habe sie bereits genommen.

Die Wärme, die Befürchtung und die Fernsehbilder aus Fukushima verbinden sich im Garten. Sommerwetter (25 Grad im Schatten) und noch kein einziges Blättchen an den Bäumen: als hätte der radioaktive Dunst nicht nur die Luft aufgeheizt, sondern auch die Bäume entblättert.


SONNTAG, 3. APRIL

Semmel abgeholt über die Felder zum Topmodels anziehen, Mittagessen, Fußballspielen.

Großes Reinemachen






















Am Nachmittag Wanderung mit ihr und Perle zum Lindenhof, meckernde Lämmer und blökende Hammel begucken. Perle wie er leibt und lebt mit Riesenrespektabstand. Auf dem Heimweg erst ein paar Tropfen von oben und dann ein Donnergrollen, das die Kinder das Wimmern („Ich habe Angst, Papa!“, Semmel) und Kreischen („Mamiline, rette mich!!!“, Perle) lehrt. Dichte am Abend, aus aktuellem Anlass und während Semmel wieder magersüchtige Topmodels anzieht, Wishful Thinkings Hiroshi­ma (Sandras Version wich im Text leicht ab) ein ganz kleines bisschen um und verpasse dem hübschen Song einen fetzigen ostasiatischen Beat (kann man hier leider (noch) nicht hören):

There’s a shadow of a man at Fukushima
where he’d pass the noon
in a wonderland at Fukushima
‘neath the August moon
And the world remembers his face
- remembers the place was here..

Fly the metal bird to Fukushima
and away your load.
Speak the magic word to Fukushima
let the sky explode.
And the world remembers your name
- remembers the flame was…
Fuuu---kushima.


MONTAG, 4. APRIL

Westerwelle weg (vom Parteivorsitz und auch kein Vizekanzler mehr). Ein bisschen traurig, weil ich ihn durchaus, im Rahmen meiner Möglichkeiten, liebgewonnen hatte in den letzten zwölf Monaten – seines tatenlosen Schweigens, seines stillen Stillehaltens wegen. Keinen Schaden anzurichten ist ja leider das Beste, was ein FDP-Politiker heutzutage zu vollbringen vermag (Ausnahmen wie Frau Leutheusser-Schnar­renberger bestätigen die traurige Regel). Nichts war mehr zu hören von freiheitlich-demokratischen Bescheuertheiten a la: Wer arm ist, der will das so, denn wollte er es nicht, wäre er ja reich. Idiotischerweise stürzte Westerwelle nicht etwa über die völlig verrückte Gleichmacherei, der er stets und ständig das Wort sprach, sondern über das einzige Verdienst, dessen er sich seinem Volk gegenüber schuldig gemacht hatte: es war zu großen Teilen SEIN Erfolg, im September 2009 einer potentiellen 3-Prozent-Partei geradezu himmlisch anmutende 14 Prozent der Wählerstimmen beschert zu haben. Heute, wo die Partei bei immer noch famosen 5 Prozent liegt, muss Westerwelle gehen. Aber er wird wiedergekommen; zwar nicht in der FDP, dafür jedoch in einer noch zu gründenden Partei des anstandslosen Wohlstands. Denn mit diesem Thema kennt Guido sich bekanntlich bestens aus. Der Jurist, der mal in Papas Kanzlei aushalf, wird im Übrigen von dem Arzt (Rösler), der niemals eine Praxis hatte, als Parteivorsitzender abgelöst.


DIENSTAG, 5. APRIL

Am Morgen im Park sitzt Semmel und zeichnet des Geheimrats Gartenhaus ab. Fragt mich, wohin ich führe und was ich in meiner Tasche hätte. Verbringe den Tag in der Bibliothek. Erst Frühlingsgefühle (Erdbeermund, Kirschauge, Apfelbacke, Stachelbeerwade) ... dann Fukushima: Nachdem man, der Strahlung wegen, vor ein paar Tagen Planen über das Atomkraftwerk gelegt hatte, wird heute versucht, lecke Leitungen mit Stroh zu stopfen.

Am Abend Fußball im Fernsehn: Schalke spielt mit neuem alten Trainer (Rangnick) und nicht wenigen Spielern, die sein Vorgänger (Magath) in der vierten Liga rumpeln ließ, beim Championsleague-Titelverteidiger Inter Mailand. Nach 25 Sekunden das 1:0 für Mailand. Was folgt in der ersten Halbzeit, ist ein offener Schlagabtausch, bei dem die Schalker gegen jede Wahr­scheinlichkeit nicht untergehen. Zur Pause 2:2 (nach zweimaliger Inter-Führung), und auch nach der Pause geht es so weiter. Mit dem kleinen Unterschied, dass Inter erst zwei oder drei Riesenchancen vergeigt, dann in Rückstand gerät, beeindruckt ist, kurz darauf ein Eigentor kassiert, geschockt ist, und eine durchaus unberechtigte gelbrote Karte hinnehmen muss. Es steht 2:4 nach Toren und 10:11 nach Männern, es sind gerade mal 60 Minuten gespielt, und Inter ist unverständlicherweise vollkommen demoralisiert. Kein Witz! Statt, wozu sie durchaus in der Lage gewesen wären, weiter nach vorn zu spielen, um wenigstens 5:4 oder 6:4 zu gewinnen, stecken die Italiener auf, knicken ein, fangen sich noch das 2:5 und sind gut bedient, dass es dabei bleibt. Nicht der Sieg, nicht die Höhe sind das Erstaunliche, sondern die Tatsache, dass der Titelverteidiger bereits nach 60 von insgesamt 180 (oder gar 210 Minuten) Minuten aufgibt. Ja, und weil das alles nicht wahr sein kann, tippe ich beim Rückspiel auf folgendes Ergebnis: Schalke 04 gegen Mailand 0:4.


MITTWOCH, 6. APRIL

Binsenweisheit des Tages.
Es gibt Menschen, die sind sowohl gegen jeden Schmerz als auch gegen jeden Scherz resistent.


DONNERSTAG, 7. APRIL

Stürmischer Tag. Um zwölf Mittagssüppchen mit S. und T. in Anselms viel zu teurer Suppenbar.

Im Rotlichtviertel























FREITAG, 8. APRIL

Spaziergang am Karl-Heine-Kanal entlang durch Plagwitz. Sehr anmutiger Arbeiterstadtteilcharme. Erich-Zeigner-ALLEE! Clara-Zetkin-PARK. Und immerhin eine Kurt-Eisner-STRASSE und kein -Gässchen. Kleines kommunistisches Namensparadies. Zwei kleine Ein-Euro-Büchlein gekauft (Rosa Luxemburg und Lenin). Mittagessen im indischen Bistro gegenüber der Mensa am Park (Spinatkartoffeln mit Reis für 3,50 Euro). Flaniere durchs Zentrum dieser wirklich genau so schönen wie preiswerten Stadt. Ein Rentnertouristenpärchen über Auerbachs Keller: „So was Schönes gibt’s in keiner westdeutschen Stadt!“ 

Eine Stadt zum Verlieben























SONNABEND, 9. APRIL

Am Morgen das Fahrrad repariert (Bremsen eingestellt und Kette geölt). Baumhaus, Mittagssuppe, Baumhaus, Semmels Vorspiel im Coudray-Saal der Musikschule besucht. Das Publikum lobt, die Klavierlehrerin tadelt. Die Architektur des Saales: Eine Mischung aus romantischen Pastellfarben, biedermeierlichen Deckenblumen und neoklassizistischen Säulen; eine, wie es mir scheint, dreifache Verhohnepiepelung Coudrays. Im Vorgarten die Tulpen schließen ihren Blüten.

Gartenarchitektur


















SONNTAG, 10. APRIL

Binsenweisheit des Tages.
Der eine lebt auf eigene Verantwortung, der andere lebt auf eigene Verantwortungslosigkeit.

Baumhauserdarbeiten, Suppe, dann Semmel abgeholt um zwei in G. Auf dem Heimweg Torsten und Nikita getroffen. Torsten liest Hessels Empört euch! und Semmel ganz begeistert von Nikita, der schwarzen Hündin. Verabschieden uns an der Goethewanderwegscheide, und Torsten verspricht, nachher zum Kaffeetrinken vorbeizukommen. Macht er dann auch, und Semmel mit leuchtenden Augen und offenem Mund wegen des Hundes und der Pferde, von denen Torsten erzählt. 
 
Dr. Koch-Mehrin auf Karl Theodor vom blaublütigen Gestüt zu Guttenberg


















Zitat des Tages.
„Da würde ich subjektiverweise sowohl typische als auch und vor allem strikte rassische Abstufungen treffen wollen. Gerade bei allen Arten von Kinesen. Die haben für mich eher was Äffchenartiges.“



DIENSTAG, 12. APRIL

Stürmischer Regen am Morgen. Nur noch sieben Grad. Zwei Jungs auf der Straße streiten sich. Sagt der eine zum andern: „Halt gefälligst deine Klappe, wenn du mit mir sprichst!“

Am Abend D. zu Besuch. Reden, schauen Schernikau bis halb zwei.


MITTWOCH, 13. APRIL

Schalke gewinnt ein zweites Mal gegen Inter (diesmal 2:1) und zieht ins Halbfinale ein: London Calling?

Arena auf Schalke

DONNERSTAG, 14. APRIL

Mache mir eine Liste, auf der steht, was noch alles zu erledigen ist. Überschrift: Nur nicht den Kopf verlieren! Treffe auf dem Weg in die Mensa Erik. Essen zusammen und quatschen anschließend in der M18 und bis halb fünf ungefähr. Über Leipzig, Literatur, Joseph Fischer und Hans Magnus Enzensberger, den Freitag und die taz.


SONNABEND, 16. APRIL

Gegen Mittag M.. Fahren zusammen in die Stadt. Erst Bibliotheken, dann Mittagssüppchen im ACC. Ein paar Besorgungen für die morgige Grillparty. Kaffeetrinken zu Hause (Schwiegermutterkuchen mit Drachenfrucht innen drin, eine tief rote, sehr süße und also sehr klebrige Angelegenheit).

Am Abend Hochzeitsfeier im Reithaus. Wenn man die hundert beklunkerten Gäste beim Fressen beobachtet, weiß man alles (besser: man glaubt, alles zu wissen). Jedenfalls hat die Braut keinen einzigen Blumenstrauß erhalten – auf ausdrücklichen Wunsch natürlich: das Paar wollte nichts als Geld haben, und das bekam’s dann auch. Ordentliches italienisches Buffet, gutes Bier, ein bisschen Show (Cheerleaders, Wackeltenöre) und Radio-Top-40-Disco. Smalltalk mit T., längeres Gespräch mit einem ehemaligen Studenten, dem zerschundenen G., Enkel (?) der G.s, die bis Mitte der Neunziger im Haus am Horn wohnten (der Großvater (?) war Professor an der HAB, später im Ministerium und nahm sich in der Wendezeit ordnungsgemäß das Leben). Der Zerschundene ist mit seinem Sohn da (zehnte Klasse, Hitlerfrisur). Halb drei zu Hause.


SONNTAG, 17. APRIL

Bei den Pferden, die teilweise mit (in?) Burka verhüllt wegen der (gegen die) Fliegen. Halten uns knapp drei Stunden auf und fahren dann zur Lagerfeuerstelle unterhalb der Lobdeburg. Dort bis kurz nach elf mit Blick auf die Lichter der Stadt. Die Mädchen, Semmel voran, den halben Tag mit Handyspielen beschäftigt.

Haflinger



















DIENSTAG, 19. APRIL

Eine hübsche Begebenheit im Meldeamt. Beantrage dort einen neuen Personalausweis. Auf die Frage der jungen, solariumgebräunten Mitarbeiterin, ob ich eine weitere Staatsangehörigkeit besitze neben der bundesdeutschen, ich: Na ja, die DDR gibt’s ja nicht mehr. Sie: Die DDR war doch kein Staat (sondern, frage ich mich, ein Unrechtsregime?). Ich: Da täuschen Sie sich aber, ich selbst war einst Bürger dieses Staates.

Am Abend auf zwei Bier bei A. Sehr herzliche zwei Stunden.


MITTWOCH, 20. APRIL

Gegen Verschwörungstheorien.
Wenn man einmal und ernsthaft beginnt, daran zu glauben, Neil Armstrong sei niemals auf dem Mond gewesen und die Politiker bekämen ihre Aussagen, also Kehrtwenden, von einer geheimen Supersoftware souffliert, in welche alle Äußerungen, Stimmungen und Meinungen des Volkes eingespeist und in Windeseile in eine Kanzlerinnenrede übersetzt werden – wer nun einmal und ernsthaft beginnt, an so was zu glauben, der ist auf dem besten Wege, verrückt zu werden.



DONNERSTAG, 21. APRIL

Kurz nach eins auf der Terrasse hinterm Büro zum Mittagsostergrillen.

Obstblüte























KARFREITAG, 22. APRIL
Jörg und Semmel beim Fallschirmzusammenlegen (im Hintergrund Anne und Stefanie)



















SONNABEND, 23. APRIL


Gänseblümchen

DONNERSTAG, 28. APRIL

Stehe im Konsum und werde von hinten angesprochen. Es ist Erik mit seiner Freundin Katharina, die beiden kaufen gerade für ein gemeinsames Abendessen ein, zu welchem sie mich ganz herzlich einladen. Während des Essens erzählt Erik eine lustig-traurige Geschichte, über die spätere Generationen... – aber das ist ein anderes Thema. Jedenfalls wurden Hamburger Freunden seiner Eltern Fahrräder gestohlen. Einen Tag später waren die Räder wieder da, beiliegend ein Entschuldigungsschreiben: es sei ein Notfall gewesen, man bitte um Entschuldigung für den Ärger und wolle sich bedanken mit Musical-Karten für die ganze Familie. Die ganze Familie freut sich über die Räder und die Karten, geht ins Musical, und während dieser Zeit wird ihr das Haus leergeräumt.

Spinnereigelände


















FREITAG, 29. APRIL

La Boum oder Dreams Are My Reality



















SONNABEND, 30. APRIL 

Kaufe mir seit Ewigkeiten mal wieder eine CD: Ja, Panik, DMD KIU LIDT, dessen Titel ein Akronym ist für Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit.