Donnerstag, 14. April 2011

Kapitel 3

DIENSTAG, 1. MÄRZ

„Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht. Trau keinem, geh nicht mit Fremden und so weiter. Das hatten mir meine Eltern erzählt, das hatten mir meine Lehrer erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch…Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war.“ (Wolfgang Herrndorf, Tschick)

Zu Guttenberg „überraschend“ zurückgetreten. Mein erster (Günter-Grass)-Gedanke: Da wird sich die „überraschte“ Kanzlerin bestimmt freuen. Mein zweiter Gedanke: Sich für Politik zu intressieren bedeutet ja auch immer, sich für Krieg zu intressieren. Das meinte Schernikau, als er schrieb, er intressiere sich nicht für Politik, aber er mache sie.

Hübsch auch, am Abend mal wieder zu erleben, wie die Konservativen so ticken. Mit all der ihnen zur Verfügung stehenden Medienmacht und Rhetorikbrillanz verteidigten sie den nun Ex-Minister – aber nur bis zu dessen Rücktritt. Stimmt man heute Abend ein schüchternes: „Aber lieber als all die SPD- und Grünen-Banausen wäre mir ein Kanzler-Baron zu Guttenberg allemal“, da fragen sie einen, ob man was getrunken habe.

Das „Phänomen“ KTG ganz kurz: Sein „Ich bin besonders ehrfürchtig & ehrlich, mutig & moralisch, edel & elegant!“ ist, wie es sich für einen Adligen gehört, keine THESE, die widerlegt oder der widersprochen werden könnte, sondern ein AXIOM.

Zum Vergleich: Zweier Ästhetiken erster Satz.
(1) „Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein, zusammengedrängt zu Gruppen, ineinander verschlungen oder zu Fragmenten zersprengt, mit einem Torso, einem aufgestützten Arm, einer geborstnen Hüfte, einem verschorften Brocken ihre Gestalt andeutend, immer in den Gebärden des Kampfs, ausweichend, zurückschnellend, angreifend, sich deckend, hochgestreckt oder gekrümmt, hier und da ausgelöscht, doch noch mit einem freistehenden vorgestemmten Fuß, einem gedrehten Rücken, der Kontur einer Wade eingespannt in eine einzige gemeinsame Bewegung.“ (Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands)
(2) „Kunst lebt von den Fehlern der Welt.“ (Peter Hacks, Die Maßgaben der Kunst)

Peter Hacks, ein „kommunistischer Reaktionär“, tönte der Deutschlandfunk letzte Woche. Das ist, mit Verlaub, natürlich ein Oxymoron, so wie das Lob, ein „konservativer Revolutionär“ zu sein (einst auf Thomas Mann, später auf Thomas Bernhard gemünzt), eines ist – und wie hingegen ein „reaktionärer Stalinist“ zu sein, ein Pleonasmus wäre.

Es gibt Menschen, die glauben, weil sie gern schräg (also daneben) denken, seien sie besonders schlau.


MITTWOCH, 2. MÄRZ

„Das imposanteste Glied des deutschen Mannes ist der erhobene Zeigefinger.“ (Fritz J. Raddatz, Tagebücher 1982 – 2001, S. 759). Die Perlen sind, wie so oft bestätige ich V.s Eindruck gern, sehr rar gesät (sät man Perlen denn?), und dann sind’s auch meist schlüpfrige oder verschwitzte. Aber Perlen sind niemals schlüpfrig oder verschwitzt: Was sagt das über mich, der ich diesen vor Selbstverliebtheit und natürlich auch vor allen möglichen Flüssigkeiten triefenden Klatsch- und Tratschschinken von vorn bis hinten lese?


DONNERSTAG, 3. MÄRZ

Das ZEIT-Phänomen: je unerheblicher die Zeitung wird (und sie wird es mit jeder verstreichenden Woche), desto mehr Leser (Käufer) gewinnt sie (und mit diesem beschissenen BILD-Argument wirbt sie, die Zeitung, die mal einen Namen hatte (und die ich probeweise für vier Wochen aus meinem Briefkasten klauben darf), auch noch!). Vor allem die durchaus sehr schmierig-gönnerhafte, stets viel zu weit ausholende Helmut-Schmidt-Geste: Hört mal zu, ihr kleinen akademischen Hausfrauchen, jetzt erklär’ ich euch mal die Welt (selbstverständlich wird dann nicht die Welt erklärt (das ginge ja noch), stattdessen wird mit mal mehr, mal weniger gewundenen und sich windenden Phrasen geprotzt).


FREITAG, 4. MÄRZ

Binsenweisheit des Tages.
Es ist durchaus unanständig, sich durch das gesprochene Wort überzeugen lassen zu wollen statt, wie es sich gehörte, durch das geschriebene.

Schwarz-Weiß-Denken.
Alles, was man über den Scharlatan Enzensberger, den „Nurejew der Literatur“ (Raddatz), wissen muss: Früher, als ihn noch schwarzes Haar zierte (hatte er denn schwarze Haare?) war er links; heute, wo er weiße Haare hat, ist er rechts.

T. hat Karten für Dekadance besorgt. Die weltberühmte Band, sie spielt im weltberühmten F-Haus (F eine Abkürzung für FDGB – noch eine Abkürzungsebene mehr, und es herrschte Schweigen – endlich?), die Band jedenfalls setzt eher auf Stammtischvorurteilsreflexe (Homophobie und Hitlerparodie) im Publikum als auf das, was man von ihr (vor allem von Bernd (Bert?) Stephan und Olaf „Gaby“ Schubert) hätte erwarten dürfen. Oder anders: Postpolitikkabarettjazz („Veränderung, alles was wir wollen (brauchen) ist Veränderung“) statt guter Unterhaltung, wozu die Band ja fähig wäre. Mich langweilt das mehr, als dass es mich nervt, aber über den neoliberal-nationalsozialistischen Schmonz des „Ohne Arbeit früh und spät / wird dir nichts geraten. / Der Neid sieht nur das Blumenbeet, / aber nicht den Spaten“) rege ich mich dann doch ein bisschen auf. Sicher, das ist alles Ironie – wie die ewigen Hitleranspielungen und -grüße.

T. über die superdünnen Papers erstaunt, mit denen ich meine Zigaretten drehe. Ich: So ist Rauchen NOCH gesünder! Geraucht werden muss natürlich (natürlich?) draußen in der Kälte auf dem Balkon. Hieß DDR nicht auch: Du Darfst Rauchen?


SONNTAG, 6. MÄRZ

„Bodenhaltung ist schließlich auch eine Haltung!“ (Wiglaf Droste)

Und das ist es dann auch, was mir die Doppelzüngigkeit eines Herrn Raddatz zum Beispiel so doppelt verlogen erscheinen lässt: Der schmückte sich in seinem Tabu damit, nie und niemals für Springer gearbeitet zu haben (und arbeiten zu wollen) – aber für (unter) Schmidt arbeitete er!

Besuch bei den Großeltern. Großvater immer hinfälliger, Großmutter hingegen wie aufgeblüht. Als schöpfte sie aus der Ermattung ihres Mannes neue Lebensenergie. Bin hin- und hergerissen und würde am liebsten auf der Stelle das Weite suchen. Nicht nur, weil die Kinder „am Rad drehen“. Raune, weil ich mir nicht mehr weiter zu helfen weiß, in die Runde: Wem man schon jeden Wunsch erfüllt, den sollte man nicht auch noch verwöhnen.

Am Abend absolute Windstille draußen, also auch absolute Ruhe, wenn nicht durch ein angekipptes Fenster des Nachbarhauses Schluchzen zu vernehmen wäre...


MONTAG, 7. MÄRZ

Scharfes Spinatsüppchen am Abend. Schwatze mit M. über „Klassiker der Romantik“ (Zweitausendeins, Kleist), „konservative Revolutionäre“ (Carl Schmitt) und „aufgeklärte Esoteriker“ (einige seiner Bekannten). Zu mittlerem: Der Ausnahmezustand Carl Schmitts, sagt er, sei einer, der beim Übergang von einem zum anderen System entstehe. Ich darauf: Sooo habe ich Schmitt bislang nicht verstanden, sondern eher als seltsamen Dialektiker, der den Ausnahmezustand erlaubt, um die Ordnung zu erhalten (vgl. auch Schäubles Idee, die ich ins Spiel bringe, Flugzeuge mit mutmaßlichen Terroristen (die Schmitt noch Partisanen nannte) an Bord ohne rechtliche Grundlage abschießen zu dürfen, um die Grundlagen des Rechts(staats) zu erhalten.)


DIENSTAG, 8. MÄRZ

frauentag = kleinschreibetag.

ausnahme und regel.
zwei schmitt-zitate (mir selbst auf die schulter klopfend): „souverän ist, wer über den ausnahmezustand entscheidet.“ „die ausnahme ist interessanter als der normalfall. das normale beweist nichts, die ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die regel, die regel lebt überhaupt nur von der ausnahme.“ das erste zitat sagt klar, dass für schmitt der ausnahmezustand eben nicht das zwischendrin-chaos ist, welches m. gestern abend beschwor, sondern ordnungsgemäß vom souverän eingesetzt wird, um ein solches chaos (sprich den bürgerkrieg) zu verhindern. das zweite könnte eine erklärung dafür sein, dass hacks sich so wenig mit schmitt beschäftigte: weil hacks ja genau andersherum dachte, weil ihm die regel viel wichtiger war als die ausnahme (wobei wir mal wieder beim unterschied zwischen klassik (regel) und romantik (ausnahme) wären).

die tyrannei der werte.
ein drittes schmitt-zitat: „wer wert sagt, will geltend machen und durchsetzen. tugenden übt man aus; normen wendet man an; befehle werden vollzogen; aber werte werden gesetzt und durchgesetzt. wer ihre Geltung behauptet, muss sie geltend machen. wer sagt, dass sie gelten, ohne dass ein Mensch sie geltend macht, will betrügen.“


DONNERSTAG, 10. MÄRZ

Zu Guttenberg mit Großem Zapfenstreich verabschiedet worden im Fernsehn. Deshalb sein finstrer Blick, weil das GANZE nicht HALB so pompös und fackelschwanger wie die Reichsparteitagsparaden in Nürnberg? S.s Lob von vorhin: „Du wirst immer gleich politisch“ wäre in diesem Fall tatsächlich ein Tadel. Denn wenn Guttenberg etwas NICHT ist, dann ein Politiker.


FREITAG, 11. MÄRZ

Wulf Kirsten. Begegne dem kleinen, als konservativ empfohlenen und durchaus weit über die Grenzen der kleinen, als konservativ bekannten und durchaus weit über die Grenzen des Freistaats und des Landes bekannten Stadt geachteten Dichter nun täglich (alles klar?). Gestern bemerkte und beobachtete ich Kirtsten, im Auto sitzend und wartend, wie er, besonnenen Schrittes und umsichtig durch die dunklen Gläser seiner Brille schauend, die Paul-Schneider-Straße entlang lief und nachher die Mozartstraße überquerte. Sieht man ihn so, glaubt man, einen schüchternen, übervorsichtigen Mann vor sich zu haben. Nichts deutet hier draußen auf die überquellende Fabulierlaune hin, mit der er uns dank seines anekdotenreichen Gedächtnisses vor wenigen Wochen im Deutschlandfunk erfreute. Heute treffe ich ihn in der Bibliothek, begleitet von einem sehr jungen Adlatus (?) mit blonden, wirren Haaren, einer zu großen Brille und in schwarzen, engen Hängehosen.

Erst Erdbeben, dann Tsunami in Japan. Westerwelles Binse im Radio: „Wer die Japaner kennt, weiß, dass sie in Angst leben.“ Ja ja, allerdings nicht nur die Japaner leben in Angst, sondern alle Westler, Herr von und Zunami Westerwelle.

Jakob Augsteins mir aus der Seele sprechender Leitartikel im Freitag über der deutschen Volksseele Unbehagen an der Normalität, ihrer Traurigkeit über die Entzauberung der Welt, ihrer Sehnsucht nach Romantik. Ludwig Tieck (19. Jahrhundert) über die Klassiker: „Ich hasse die Menschen, die mit ihrer nachgemachten kleinen Sonne in jede trauliche Dämmerung hineinleuchten.“ Sebastian Haffner (20. Jahrhundert), nachdem Hitler an die Macht gekommen war: „Es war, man kann es nicht anders nennen, ein sehr verbreitetes Gefühl der Erlösung und Befreiung von der Demokratie.“ Jakob Augstein (21. Jahrhundert) über zu Guttenbergsche Beliebtheitsprozente (und, wenn man so will, auch über die Tränen, die beim gestrigen Zapfenstreich über so manches hübsche Gesicht kullerten): „Das ist also, um es zusammenzufassen, eine Art fröhlicher Faschismus, dem da gefröhnt wird.“

Tschick ausgeliehen – Wochenende gerettet.

Abend mit D. Aufgeweckt und durchaus bodenständig. Quatschen bis halb zwei über Liebe und Tod, das Tagebuchschreiben und andere Krankheiten, über Heike Makatsch und in keiner Sekunde über Japan.


SONNABEND, 12. MÄRZ

Holz gesägt und gespalten. Frühlingserwachen. „Japan droht atomare Katastrophe.“ (yahoo.de)


SONNTAG, 13. MÄRZ

Zitat des Tages.
„Wir sollten denen vergeben, die noch soviel Geist hatten, Menschen um hoher Ideale willen umzubringen.“


MONTAG, 14. MÄRZ

Über Idioten und Verbrecher.
In den Nachrichten faselt die Kanzlerin, die japanische Atomwolke auf dem Schirm, vom Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg. Plötzlich sind es nicht nur Vollidioten, die Woche für Woche gegen die „friedliche“ Nutzung der Atomkraft demonstrieren.
Der heutige Erkenntnisgewinn ist ein doppelter.
Zum einen ist es durchaus und dennoch ein wenig idiotisch, gegen Atomkraftwerke zu demonstrieren, denn damit versucht man ja, auf demokratische Weise in die Wirtschaft einzugreifen, wofür die bürgerliche Demokratie aber gar nicht gemacht worden ist, im Gegenteil. Wer also eine demokratisch legitimierte Wirtschaft will, sollte für ein anderes Wirtschaftssystem (sprich: Gesellschaftssystem) auf die Straße gehen.
Zum anderen kam heraus, dass das am Pazifikstrand gelegene Atomkraftwerk in Fukushima nur für Erdbeben der Stärke 8 ausgelegt worden war, obwohl bekannt war, dass Erdbeben in dieser Region durchaus mit einer Stärke von 9 (was der zehnfachen Heftigkeit im Vergleich zu einem Erdbeben der Stärke 8 entspricht) auftreten können (Tsunami in Folge des Erdbebens inklusive). Der Grund, warum auf eine entsprechende Dimensionierung des AKWs verzichtete wurde: Herstellung und Betreibung wären unwirtschaftlich geworden, sagt das Radio kommentarlos, was vielleicht auch besser so ist. Denn übersetzen kann sich diese Nachricht jeder selbst: In der schönen westlichen Welt (zu der seit einiger Zeit auch Deutschland und Japan dank ihrer emsigen Anstrengungen gehören) gilt als wirtschaftlich, Geräte zu bauen, die durch eine Naturkatastrophe (Fukushima), menschliches Versagen bzw. Sabotage (Tschernobyl) oder einen Terrorunfall (bislang noch nicht vorgekommen), in der Lage sind, alles kaputt machen zu können, Mensch und Natur.
Die beiden Erkenntnisse (und damit die ganze Anti-Atomkraft-Bewegung) auf eine Formel gebracht: Idioten demonstrieren gegen Verbrecher.

PS: Plötzlich sind auch nicht mehr alle Österreicher Verbrecher (tut mir leid, lieber Thomas Bernhard), denn Atomkraftwerke, immerhin, die gibt es nicht in Österreich, noch nicht mal in Kärnten, wo die Kacke, wie man weiß, besonders heiß am Dampfen ist.


DIENSTAG, 15. MÄRZ

In einem mitreißenden Radio-Champions-League-Heimspiel scheiden die Bayern gegen Inter Mailand und gegen alle Wahrscheinlichkeit aus (sie hatten das Hinspiel ja mit 1:0 gewonnen und führten, nach großartigem Spiel, zur Pause 2:1). Auf den Punkt gebracht: „Die Verscherbelung der Senderechte vieler Fußball-Highlights an Pay-TV-Anstalten hat einen Vorteil. Die vom Aussterben bedrohte Radioreportage erlebte eine kaum für möglich gehaltene Renaissance. Und wenn mit Edgar Endres und Karl-Heinz Kas zwei waschechte Bajuwaren die Schlußphase eines vermeintlich schon gewonnenen Spiels von Bayern München in der Champions League kommentieren, schmeckt das Hefeweizen gleich doppelt so gut. Selbst dann, wenn man diesen Schnöselklub zum Teufel wünscht. Doch schon der Ausgleich von Inter Mailand brachte ein zittriges Vibrato in den bislang brillierenden Tenor von Kas. Und als Goran Pandev den Bayern in der 88. Minute den Gnadenschuß verpaßte, folgte ein wie aus der Gruft geröcheltes »Da legst di nieda.« Radio ist einfach Klasse.“ (junge Welt, 17. März 2011)


MITTWOCH, 16. MÄRZ

Zur bundesdeutschen Politik, die Separatisten in Jugoslawien damals, 1991/92, anerkannt zu haben, Edmund Stoiber: „Kohl vollendet das, was Kaiser Wilhelm und Hitler nicht erreicht haben.“

Den zweiten Tag in Folge Nebel, warmer Nebel – oder handelt es sich um eine atomare Staubwolke? War ja schließlich Ostwind gestern.


DONNERSTAG, 17. MÄRZ

1945: Hiroshima – 2011: Fukushima. In der Zwischenzeit, die immerhin 66 Jahre währte, der durchaus gigantische Selbstbetrug, der atommoderne Mensch könne noch Herr seiner eigenen technischen Schöpfungen sein; trotz des warnenden Zeigefingers Günther Anders’, aber weder den Anders noch den Zeigefinger nahm man je ganz für voll.

Was sonst noch los ist auf der Welt: die Chinesen kaufen jodiertes Salz ihres mao-modernen Aberglaubens wegen (soll gegen Radioaktivität helfen) und Konterrevolutionen in Bahrain und Libyen.

Helmut Schmidt auf eine ZEIT-Frage (also im Grunde eine Frage von sich an sich), ob die Atomreaktorkatastrophe in Fukushima ohne Beispiel sei, sagt, sie sei tatsächlich nur vergleichbar mit den beiden Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, und dann noch mit den Bombardements auf Dresden und Hamburg, und mit dem Anschlag auf die Türme des World Trade Centers. Das sagt er und unterschlägt, dass er, Helmut Schmidt himself, in den 1940ern als adretter Offizier auf seinem Weg nach Leningrad ganz bestimmt an Auschwitz vorbeikam. Kann man ja mal vergessen. Oder wollte er, ohne es auszusprechen, sagen, dass Auschwitz keine beispiellose Flugzeug-, Bomben- oder Atomkatastrophe, sondern eine durchaus und damals übliche Eisenbahn-, Muffelöfen- und Giftgaskatastrophe war?


FREITAG, 18. MÄRZ

In der Bibliothek G., der auf meine Frage, wie es ihm gehe, sagt: schlecht. Er nehme Tabletten und habe 12 Kilo zugenommen (kann man aber nicht sehen; was man hingegen sehen kann, ist, dass er sichtbar ergraut ist). M. ruft an und erzählt, er sei gestern in Leipzig auf der Messe gewesen und sei Jutta Ditfurth begegnet, die aus ihrem neuen Buch über die (oder besser: gegen die) Grünen gelesen habe. Ob sie auch über ihre Beunruhigung räsonierte, dass die Grünen erstmals und ausgerechnet in Baden-Württemberg demnächst einen Ministerpräsidenten stellen könnten (laut Umfrage-Vorhersagen), das traue ich mich nicht zu fragen, bin ja schließlich in der Bibliothek. So oder so, ob nun weiter mit der CDU oder erstmals mit den Grünen: Armes, reiches Baden-Württemberg.


SONNABEND, 19. MÄRZ

Ankunft in L. gegen zwölf nach kleiner Sightseeing-Autofahrt durch die schöne Innenstadt. Auch prima, dass die Aurora-Taschenbücher mit Hacks-Stücken zu den schönsten Büchern des Jahres und des Landes gehören, und dass ich sein Konterfei auf einer Sgt.-Pepper-Postkarte finde. Was ich vermisse, sind einige der mir lieben kleinen Verlage: Friedenauer Presse, Blumenbar etc. Kaffeetrinken mit Sa. und A., der mit seinen großen Söhnen vor Ort ist (und mich anklingelt).

Kleines Fazit: Es handelt sich um eine Buchmesse, nicht um eine Literaturmesse, was ja das genaue Gegenteil einer Buchmesse wäre. Am Ende des Tages wird mir das Naheliegende endlich klar, und alles, was ich eben erlebte, wird erklärlich. Weil es eine Buch- und keine Literaturmesse ist, muss man die ganzen verkleideten Kinder ertragen, die das wahre Wesen der Veranstaltung ans Licht des Tages bringen, weil es eine Buch- und keine Literaturmesse ist, wird im Radio ein Ansturm auf die „Lesung“ von Veronica Ferres befürchtet, und für Wondratschek, Meinecke, Holbein und Co. intressiert sich kein Mensch, weil es eine Buch- und keine Literaturmesse ist, hat nicht Wolfgang Herrndorf, wie es sich gehört hätte, den Preis der Messe erhalten, sondern der Schnösel Clemens J. Setz. Herrndorf, schwer, wenn nicht unheilbar krank, hätte man nicht herumreichen, also verMARKTen können: „15.1. 17:36 / Gerade werden die Filmrechte verhandelt. Und das ist vielleicht der Punkt, wo ich dann doch so eine Art von Ressentiment empfinde: 25 Jahre am Existenzminimum rumgekrebst und gehofft, einmal eine 2-Zimmer-Wohnung mit Ausblick zu haben. Jetzt könnte ich sechsstellige Summen verdienen, und es gibt nichts, was mir egaler wäre.“ (Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur, Internet-Blog)

Abendessen mit Sa. in einer Dönerkaschemme in der Karl-Heine-Straße (wer war Karl Heine?) Höhepunkt des Abends: Konzert in der Schaubühne Lindenfels. Droste liest und seine Adoptiveltern begleiten ihn aufs Angenehmste, die biedere Brüning und der redelustige Gehstock-Petrowsky. Droste heute nicht nur mit auf Dauer enervierender Sprachkritik (Geld und Gelder) und hin und wieder durchaus platten Zoten (Habt ihr keine Vase?), sondern auch mit ebenso hübscher wie verdienter Häme gegen die Grünen, die Grünenwähler, Grass und die Grass-Leser, und sehr schön vor allem das Scrabble-Wortgefecht mit seiner Mutter (der leiblichen).


SONNTAG, 20. MÄRZ

Wie stellt man mit einer Uhr fest, wo Norden ist? Den Stundenzeiger Richtung Sonne halten: der halbe Winkel zur 12 zeigt nach Süden. Gefunden in Tschick. Wie geht es Herrndorf?

Gretchenfrage des Tages.
Gegen oder für den Krieg gegen Libyen? Wenn man hört, wie vehement sowohl die Grünen als auch die SPD die Kriegsbeteiligung Deutschlands herbeizuschreien versuchen, muss man einfach dagegen sein. Nicht dass Merkel und Westerwelle plötzlich zu Pazifisten geworden sind, es sind wohl die anstehenden Landtagswahlen der Grund für die Enthaltung.


MONTAG, 21. MÄRZ

Beim Bäcker Kaffee und zwei Zeitungen. In beiden Fotos von S. (in der TA allein vorm Klavier sitzend und spielend, in der TLZ ein Gruppenfoto). Eine der Zeitungen erklärt kurz und knapp, dass ALGII aus Steuer„mitteln“ bezahlt werde, und der Leser soll sich wohl fragen, ob es nicht besser wäre, diese Steuer„mittel“ ausschließlich zum Retten von Banken und zum Führen von Kriegen zu verwenden statt sie an Menschen zu verschwenden.

Kleines Contra Herrndorf.
Ein wenig nachdenklich macht mich schon (bei aller Begeisterung), dass Herrndorf seine Helden sowohl in In Plüschgewittern als auch in Tschick heterosexuell versagen lässt, was durchaus nicht unsympathisch wäre, wenn er sie nicht auch unter einer nicht nur latenten Homophobie leiden ließe...


DIENSTAG, 22. MÄRZ

Binsenweisheit des Tages.
Auch wenn man von Altersarmut verschont bleiben sollte – Altersanmut darf mit Sicherheit nicht zu erwarten sein.

Binsenweisheit des Tages II.
In der Demokratie setzt sich, wie jeder weiß, stets das Mittelmaß durch. Das Bessere und das Schlechtere werden links (jenes) bzw. rechts (dieses) liegengelassen.

Großes Pro Herrndorf Oder Schüchterner Wiedergutmachungsversuch.
„Tschick war mit dem Kopf auf das Armaturenbrett gesunken. Ich legte eine Hand in seinen Nacken, und dann saßen wir da und hörten ’Ballade pour Adeline’, und ich dachte einen Moment darüber nach, auch schwul zu werden. Das wäre jetzt wirklich die Lösung aller Probleme gewesen, aber ich schaffte es nicht.“ (Wolfgang Herrndorf, Tschick, S. 214)

Mit anderen Worten: Tschick ausgelesen – Leben gerettet! Wenigstens und vorläufig das eigene.

Fernsehn am Abend. Neues aus der Anstalt, Urban Priol: „Planung ist (nur) der Ersatz des Zufalls durch den Irrtum.“ Neues aus der Talkshow-Anstalt. Werner Schneyder: „Wachstumsideologie ist eine Geisteskrankheit.“


DONNERSTAG, 24. MÄRZ

Japan explodiert weiter und exportiert weiter Strahlen in die Welt; Krieg gegen Libyen; Brüderle sagt die Wahrheit und nimmt die Sündenbockbürde von der Kanzlerin (wie im letzten Jahr Westerwelle). Oder genauer: Es wird ihm nahegelegt, die Bürde auf seinen Brüderle-Schultern zu schultern. Schlaue Merkel!

Fragen des Tages.
Lieber ZEIT-Schriftsteller Adolf Muschg, wie Sie allerbestens und allererstens wissen, ist das Wort Super-GAU Quatsch. Warum verschonen Sie uns dann nicht mit ihm? Und wieso heißen Sie immer noch Adolf???


SONNABEND, 26. MÄRZ

Um zehn S. abgeholt. Nach dem Mittagessen zum Pferd. Die Kleine die ganze Fahrt über ganz aufgekratzt. Ich zu ihr mit Jens Friebes Worten: „Du freust dich ja gar nicht“. Da lacht sie natürlich und fragt mich so was Ähnliches wie das Folgende: „Papa, kann es auch passieren, dass nicht nur, wie schon mal vorgekommen, Hochhäuser den Flugzeugen beim Fliegen im Wege stehen, sondern auch Atomkraftwerke?“ Da schmunzle nun ich, und ich denke: Eigentlich lustig, dass jeder weiß, dass man damit rechnen muss und es trotzdem AKWs gibt in unserm Land. Auch nicht schön das eisekalte Regenwetter. Also nur Abäppeln (auf) der Koppel und Striegeln des Pferdeponys Alissa
Fußballspiel im Fernsehn. Deutschland 4:0 gegen Kasachstan (Sy. wusste vorhin auch nicht, warum Kasachstan Mitglied der UEFA ist).


SONNTAG, 27. MÄRZ

Baden-Württemberg-Wahl. Zeige meine Ehrerbietung vor den Südwestlern, indem ich mich ganz häuslich gebe: Holz gestapelt, Mittagessen gegessen, Wäsche gewaschen, Fenster geputzt, das Haus gewischt und die Duschkabine gesäubert. Und dann das: es droht ein grüner Ministerpräsident im Ländle. Erst GAU in Fukushima, nun in Stuttgart. Die Gesichter der Schwarz-Gelben verfärben sich zusehends grün-rot. Und noch viel mehr und noch viel blödere Politikfarbenmetaphern im Kopp.

Binsenweisheit des Tages.
Merkel und Westerwelle werden umdenken müssen? Umdenken geht doch nur, wenn man sein Denkvermögen nicht eingetauscht hat gegen Macht (oder Geld oder was auch immer).


DIENSTAG, 29. MÄRZ

Rundreise mit der Bahn (eigentlich: mit dem Zug und auf der Bahn) durch Mittel- und Süddeutschland. Besserverdienergattinnen (besser: Besserverdienernutten) auf dem Bahnsteig; Paradies im Morgenfrost; das Saaletal bergauf, vorbei an Randtannen und dem unheimlichen Örtchen namens Gabe Gottes; als es wieder bergab geht in den Tälern zwischen den Hügeln südlich Nürnbergs die unvermeidlichen Kirchturmminarette: Wolkenkratzer der Provinz, in die sich selten ein Flugzeug verirrt; die Hochebene westlich Augsburgs durchquert; jeden Moment scheint, im dunstigen Frühlingssonnenschein, der große Fluss überzuschwappern über die Gleise und die Hauptsitze der weltmarktführenden Familienunternehmen, auf die hier jedes reiche Kuhdorf stolz sein darf dank der noch viel reicheren – äh, zahlreicheren – afrikanischen Großstadtslumfamilien: übelkeitserregende Anmut – beidseitig ausschlagender Kulturschock; geradezu demütig das (Durch)hängen des Ulmer Hauptbahnhofsvordachs ... Im EuroCity, der die furchtbar berühmten Eurocitys Klagenfurt und Siegen verbindet: Seichte Klagen bis wir endlich siegen und noch mehr bescheuerte Gedanken; Geislingen an der Steige umrundet, die Gleise dem Berg folgend, (noch) keine geradlinig durchpfeilenden Hochgeschwindigkeitsstreckenbrückenmonster wie im Thüringer Wald (Großbreitenbach); Untertürkheims Benz-Fabrik, Untertürkheims Benz-Museum, Untertürkheims Benz-Arena: Architekturperlen ohne Platz zum Atmen; Stuttgart-21, der im Abteil telefonierende Business-Idiot steigt aus, verabschiedet sich höflich-idiotisch, Obstbäume blühen rosa auf dem Weg (der Bahn) nach Heidelberg; Aufenthalt in Frankfurt: Vor dem Hauptbahnhof großkriminelle Bankspekulanten und nicht wenige weniger gut organisierte kleinkriminelle Terroristen, ein paar Altstoffsammler und viel mehr Männer auf der Suche nach anders gearteter Befriedigung, höfliche Asylerhoffer und rücksichtslose Behinderte, zwei DB-Sicherheitsangestellte im schwärmerischen Plausch über den verloren gegangenen Vorsprung der Stasisicherheitskraft: und zum ersten Mal fällt mir auf, dass Frankfurt die einzige Großstadt des Landes ist, der einzige Melting-Point-Schmelztiegel! In der Mobil-Zeitung der Bahn ein schüchterner Hinweis auf Jan Weiles Bahnhof-Altenbeken-Remineszenz (Die wildwestfählische Pause, faz.net) und ein Foto des konjunkturprogramm-rundumsanierten und umwelteffizient-energieverbraucheinsparenden Dessauer Hauptbahnhof-Schmuckstücks, alles ganz prima, aber nicht ein einziger Mensch ist zu sehen auf dem Foto. In ernüchterter Stimmung finde ich, zwischen Fulda und Gotha, in Herrndorfs Kurzgeschichte Der Weg des Soldaten (in: Diesseits des Van-Allen-Gürtels) diesen lebensklugen Satz über die Verlorenheit der Nürnberger Kunststudentinnen: „Viele kamen von Waldorfschulen und lasen Faschistenliteratur.“ (ebd., S. 9)